Aussortiert
sprach aus, was angeblich viele so nur
dachten. Und es kam an, weil tatsächlich viele so dachten. Von
Kistner abgesegnet, beteten sie seine Parolen nach, wurden mit dem Gefühl
belohnt, endlich etwas vom Herzen weg hinausgesagt zu haben, mutig und
ehrlich gewesen zu sein. Sie bedachten dabei nicht, daß die
Schweinezeitung vor allen anderen den Namen des Killers veröffentlichen
und jeden Winkel seiner Herkunft im grellsten Licht beleuchten würde,
wäre er erst einmal gefaßt.
Lidia wartete den Moment ab,
als sie mit Nabel allein im Büro saß. Die minzgrünen
Lamellen waren zum Schutz gegen die drückende Hitze heruntergelassen,
die daraus entstehende Düsternis trug nicht gerade dazu bei, beider
Stimmung zu heben.
Kistners Kolumne, in
Millionenauflage gedruckt, hatte eine Flut von Denunziationen zur Folge.
Anonyme Anzeigen nannten die Namen von unscheinbaren Menschen nebenan, die
bitte unter die Lupe genommen werden sollten, entweder weil sie
Hasenscharten, Brandnarben, eine kindliche Handschrift oder angeblich zu
kleine Penisse hatten, arbeitslos, Säufer oder zu wenig
mitteilungsbedürftig waren. Wahnwitzig. Kistner hatte die Stadt zur
Jagd aufgefordert und jeden seiner Leser zum Blockwart befördert. Aus
diesem Berg von Anschuldigungen sinnvolle Informationen herauszufiltern,
war schier unmöglich.
Lidia kam immer noch nicht
mit dem Täterprofil klar beziehungsweise hatte sie, von Kollegen dazu
gedrängt, ein provisorisches erstellen müssen, feilte aber
dauernd daran herum, nie mit sich zufrieden. Das alles ergab kein rundes
Bild.
»Kai?«
»Hmmhm?«
»Ich hab aufgehört.«
»Was?«
»Du weißt schon,
womit.«
»Gut. Danke.«
Lidia log ihn an, sie hatte
ja noch nicht aufgehört, würde es erst versuchen müssen.
Aber sie war wild dazu entschlossen, empfand sich deshalb nicht als Lügnerin.
»Sag mal –«,
fragte Nabel, »Kistner klingt in seiner Kolumne heute so
psychologisch. Woher hat er das?«
»Ich finde nicht, daß
das psychologisch klingt.«
»Für die Verhältnisse
der Schweinezeitung schon. Hast du nicht selbst mal erwähnt, sexuelle
Impotenz könnte der Schlüssel für die Motivation des
Killers sein?«
»Das liegt doch nahe.
Sexuelle Frustration ist ein Hauptmotor für Aggressivität.«
»Du hast also nicht mit
Kistner geredet?«
»Nein.«
Nabel wurde mißtrauisch.
Ein simples Nein? Kein empörtes Dementi?
Aber er sprach die Sache kein
zweites Mal an. Allein schon, weil er von Lidia zu abhängig war. Wozu
das Arbeitsklima ohne Not mit Verdächtigungen vergiften?
»Irgendwo«, sagte
er stattdessen, »hat Kistner ja recht.«
»Wie bitte?«
»Naja, was er über
den Mord in der Hasenheide sagt, stimmt. Diese Tat wirkt doch wie
nachgeschoben, um sich wieder mal ins Spiel zu bringen. Und was die
angebliche Feigheit der Tat angeht: Für einen im Töten
ausgebildeten Menschen ist es leichter, jemanden, der das nicht erwartet,
mit einem gezielten Stich ins Herz umzubringen, als ihn mit einem Schal zu
erdrosseln.«
»Du glaubst, daß
der Täter eine Nahkampfausbildung hatte?«
»Ich glaube alles, was
mich weitermachen läßt.«
»Schön.«
Lidia tippte mit ihrem Bleistift ein Stakkato auf die lederne
Schreibtischplatte.
»In einem anderen Punkt«,
rief sie quer durch das Büro, »hat Kistner, glaub ich, nicht
recht.«
»In welchem?«
»Daß der Täter
Bekennerschreiben hinterläßt, um irgendwann gefaßt zu
werden. Dazu sind seine zu wenig phantasievoll, zu schlicht. Nein, ich
glaube, daß der Täter seine Taten quasi signiert, aber kein
Interesse dran hat, aufzufliegen.«
»Das hat Kistner also
nicht von dir?«
»Kai! Liebst du mich
denn gar nicht mehr?«
»Doch. Ein bißchen.«
Nabel flüsterte, sein Blutdruck stieg. Er mochte es nicht, wenn Lidia
auf diese Art ironisch wurde.
»Gutes Stichwort. Ich
glaube, der Täter will ein bißchen Geisteskrankheit vortäuschen.«
»Was bedeutet?«
»Pure Lust am Töten.«
»Und das ist nicht
geisteskrank?«
»Anders.« Lidia hätte
gern konkreter werden wollen. Und ließ, verstummend, ihren Kopf hängen.
Seidel rief zur
Krisensitzung, forderte Ergebnisse. Am Ende mußte selbst er zugeben,
daß von nichts nichts kommen kann. Nabels Leute, die Soko war
inzwischen auf zwölf Ermittler aufgestockt worden, vergeudeten ihre
Zeit damit, anonymen Hinweisen nachzugehen, nur, um irgend etwas zu tun.
Die
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