Aussortiert
Bekennerschreiben wurden auf Internetseiten gezeigt, in der Hoffnung,
daß jemand die Handschrift wiedererkennen würde. Fachleute
waren sich inzwischen einig geworden, daß die Kindlichkeit der
Buchstaben eine vorgetäuschte war. Das Alter des Urhebers schätzten
sie mit fünfundzwanzig bis fünfundfünfzig äußerst
vorsichtig ein. Niemand schien sich die Finger verbrennen zu wollen.
Betrachtete man die Tatorte,
ergab sich kein Muster. Charlottenburg, Neukölln, Schöneberg
Grenze Tiergarten und wieder Neukölln an der Grenze zu Kreuzberg und
Tempelhof.
Wenigstens konnte man von
einem männlichen Täter ausgehen. Messermorde werden so gut wie
nie von Frauen ausgeübt, es sei denn, sie greifen während einer
emotional eruptiven Situation, sozusagen außer sich, halb unbewußt,
nach etwas Stählernem.
Nabel fühlte sich in die
Steinzeit zurückversetzt, als es noch keine DNA-Analysen gab. Weil an
den Tatorten keinerlei DNA-Spuren gefunden wurden, mußte er vorgehen
wie ein Steinzeitkriminaler. Demütigend. Nichtmal im Buschwerk fanden
sich Abdrücke der Schuhe des Mörders, dazu war der Boden im
August zu trocken. Nabel war sich sicher: Würde der Mörder jetzt
aufhören, er würde nie gefunden werden, nie.
Nabel führte Selbstgespräche,
nachts, angetrunken auf dem Balkon, während er auf den Körnerpark
hinuntersah, in dem eine Horde Jugendlicher Frisbee spielte, unter dem
fahlen Schein der Laternen.
»Es muß dir klar
sein: Irgendeinen Menschen zu töten ist furchtbar einfach, solange
die Betonung auf irgendeinen liegt. Zusammenhänge, nur Zusammenhänge
knüpfen das Netz, worin man sich verfängt. Wo kein Zusammenhang,
da Auseinanderhang. Diaspora.«
Hinter ihm ertönte aus
kleinen Boxen das Streichquartett op. 96 von Dvořák, das
sogenannte amerikanische.
»Die Welt ist schlecht,
geschieht ihr recht.« Seine Zusammenfassung der Lage kleidete sich
in zunehmend simplere Weisheiten.
Er wollte, daß Lidia
endlich einmal stolz auf ihn war. Andererseits war sie ihm unheimlich
geworden. Seit der Sache mit dem Schnee war Lidia kein leuchtender Schrein
mehr, hatte einen Hintergrund, einen doppelten Boden bekommen, war eine
ehemals monochrome, nun schillernde Persönlichkeit. Das besaß
einen gewissen Reiz. Und auch wieder nicht. Gegen vier Uhr, völlig
betrunken, legte sich Nabel schlafen.
»Die Welt ist schlecht,
ich bin es auch.«
Ich bin ein beschissener
Polizist, dachte er kurz vorm Wegsacken. Schade. Aber der Kosmos, durch
Fernrohre betrachtet, ungeachtet der vielen schwarzen Löcher, ist
bunt und sehr hübsch. O ja. Der Kosmos kennt keine Mörder.
Derlei Detailkram hat im Big Picture keinen Platz. Dort würd ich gern
mal Urlaub machen.
Intermezzo in der Garage.
Ich bewundere dich.
Das solltest du. Immer und
überall.
Mach ich. Es entwickelt sich
alles genau so, wie du es vorhergesagt hast.
Wir sind ein gutes Team,
nicht wahr?
Das beste.
Dennoch. Nentwig hättest
du in Ruhe lassen sollen.
Ich war mir bei ihm nicht
sicher.
Jetzt bist dus?
6
Jimmy Kistner suchte noch
zweimal Kontakt zu Ahmed, den er für das schwächste, weil
schlechtestbezahlte Mitglied in Nabels Team hielt. Ahmed machte seinem
Chef deswegen Meldung. Die Reaktion war eigenartig. Nabel erlaubte ihm
nicht nur ein Treffen, er ermutigte ihn sogar, eine gewisse Gesprächsbereitschaft
zu signalisieren, solange dabei keine wichtigen Fahndungserkenntnisse
über den Tisch wandern würden.
Ȁhmm, Chef, ich
will nicht frotzeln, aber – welche wichtigen Fahndungserkenntnisse
meinen Sie genau? Wir haben doch kaum was.«
»Bedauerlicherweise,
aber das mußt du ihm nicht auf die Nase binden. Hör dir mal an,
was er anbietet. Vielleicht gibt uns das irgendwann mal ein Druckmittel
gegen ihn in die Hand.«
»Wozu?«
»Für den Fall, daß
er noch weiter ausflippt. Und gegen uns hetzt. Und das wird er, wenn wir
nicht bald vorankommen. Wenn wir dann den Versuch einer Beamtenbestechung
entgegenhalten könnten, wäre das enorm hilfreich.«
»Schlau. Aber –
ich darf keine Kohle annehmen?« »Selbstverständlich
nicht. Laß ein Mikro mitlaufen.«
Nabel hatte das Manöver
mit Seidel abgesprochen, der von Kistners ›gemäßigter‹
Berichterstattung ziemlich enttäuscht war und zugab, einen fragwürdigen
Kurs gefahren zu sein. Aufgrund Kistners Bevorzugung hatte man Sympathien
seitens des
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