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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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um
     Futter bettelten.
    Den Kinderspielplatz fand
     Kistner menschenleer vor, und er setzte sich auf eine der Schaukeln,
     wippte ein bißchen. Eine klare Nacht, mit vielen Sternen. Er sah
     Ahmed Müller-Dogan den fast unbeleuchteten Uferweg herankommen und
     blieb lässig auf der Schaukel sitzen, sehr gespannt darauf, aus
     welchem Grund der angebrannte Halbkanake erneut seine Zeit stehlen wollte.
     Wehe, wenn das kein guter Grund sein würde. Ahmed hielt etwas in der
     Hand, ein Päckchen, nein, kein Päckchen, einen, Kistner setzte
     seine Brille auf, einen Ziegelstein, aha. War das überhaupt Müller-Dogan?
    Dann ging alles zu schnell,
     um gedanklich verarbeitet zu werden, der Ziegelstein kam in seltsam überhöhter
     Geschwindigkeit auf Kistner zu, traf ihn an der Stirn. Schwarz und stumm.
     Schreien, bitte. Protestieren. Leben. Verbindung gekappt. Null und nichts.
     Nichts, nichts. Ein winziger Blitz am Horizont. Dunkel. Fettes,
     aufdringliches, endloses Schwarz.   
    Fernes Rumoren, wie
     stotternde Motorengeräusche. Schmerz, aber körperlos fern, wie
     ein Schatten, der zum Körper nicht mehr vordringt. Als tiefer Bordun
     unter feindlichem Schwarz. Das winzige Bild von zitternden Lichtern auf
     unbewegtem Wasser. Kistner erlangte noch einmal das Bewußtsein und
     schrie, hatte aber das beängstigende Gefühl, dieser Schrei sei
     nicht mit der dazu passenden Lautstärke verbunden. Sein Mund, der
     atmen wollte, lag unter Wasser, und während er schrie, ließ er
     aus seinen Lungen Luft ab, die er zum Weiterleben bitter nötig gehabt
     hätte, allerletzte Luft, die durch Wasser ersetzt wurde, bis sein
     Kopf noch einmal zuckte und für immer Ruhe gab.
    Am anderen Ufer waren die
     Menschen zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um vom Geschehen etwas
     mitzubekommen, zudem lag der Tatort im Dunkel, und selbst wer seine Augen
     angestrengt hätte, hätte höchstens Konturen wahrgenommen.
     Der Tote wurde erst gegen fünf Uhr morgens von einem alkoholisierten
     Penner gefunden, der Mühe hatte, mit gelallten Fragmenten von Worten
     seinen Fund glaubhaft zu machen.
    Auf Kistners linkem
     Oberschenkel klebte ein Schildchen. Zu laut, die Drecksau, für Gott.
     Aussortiert. Gloria in excelsis.
    Endlich kam Bewegung in den
     Fall. Vielleicht zuviel Bewegung auf einmal. Hier lag ein Motiv vor. Ein
     Motiv! Der Killer hatte seinem Kritiker auf direkteste Art geantwortet.
     Das würde nicht nur Schlagzeilen, das würde Verfilmungen nach
     sich ziehen.
    Die Journaille überschlug
     sich mit erschüttert tuenden Nachrufen, mit Solidaritätsbekundungen
     für den toten Kollegen, wie verhaßt er den meisten zuvor auch
     gewesen war. Selbst überregionale Blätter stellten fallbezogene
     Berichterstatter ab. So bestürzt sich die Medien auch gaben, im
     Hintergrund war Jubel zu hören. Das alles auch noch im Sommerloch!
     Erste Vergleiche mit Jack the Ripper konnte man lesen.
    Nabel wurde um sechs Uhr
     morgens herausgeklingelt. Er mußte ›die ganze Scheiße‹
     ohne Lidias Hilfe durchstehen, hielt sich kaum auf den Beinen, delegierte,
     was zu delegieren möglich war, und verweigerte jedes Interview.
    Kistners Leiche lag im
     Uferbuschwerk, mit dem Oberkörper im Wasser. An den Knöcheln
     waren Rattenbisse zu erkennen. Ein ungefährer Todeszeitpunkt wurde
     mit vor Mitternacht angegeben. Wäre Ahmed nicht so solariumsgebräunt
     gewesen, hätte man sehen können, daß es ihm nicht gut
     ging.
    »Chef, das gefällt
     mir überhaupt nicht. Ich habe Kistner gestern mittag hier, genau hier
     getroffen. Hier, verstehst du? Hier, auf dem Boden, auf dem wir jetzt
     stehen.«
    »Was du nicht sagst?«
    »Das kann doch kein
     Zufall sein, oder?«
    »Nö. Was weiß
     ich? Versuch mal, Kistners Terminplan zu bekommen, ja?«
    Ahmed fuhr zum Verlag,
     stellte sich vor und sprach mit Kistners Assistentin. Es kam zu einer
     skurrilen Situation. Ahmed fragte, ob Kistner spät noch einen Termin
     gehabt habe.
    »Ja doch«, sagte
     die verwirrte Frau Hagenbeck. »Was fragen Sie denn?«
    »Mit wem und wo?«
    »Na hören Sie mal,
     mit Ihnen!«
    »Verzeihung, Sie haben
     mich nicht verstanden, ich meinte keine Termine tagsüber, sondern spät,
     spätabends.«
    »Was? Wie bitte?«
    »Ähmm …«
    Ratloses Schweigen auf beiden
     Seiten.
    Frau Hagenbeck griff hinter
     sich und öffnete die Mailablage, druckte das Mail aus, das Ahmed
     gestern um 17.07 Uhr in den Verlag gesandt hatte. Ahmed starrte lange
     darauf, versuchte zu verstehen,

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