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Aussortiert

Aussortiert

Titel: Aussortiert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Krausser
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beschissenen Leben?«
    Anatol bekam Angst, bekam
     Schweißausbrüche, wiederholte leise, fast kläglich:
     »Ich werde nie mehr Kaugummi kauen in meinem ganzen beschissenen
     Leben.«
    »Die paar Sekunden lang
     wirst du deinen Schwur doch halten, oder?«
    »Bitte!« Anatol
     fiel auf die Knie. »Ich tue alles! Bitte nicht!«
    Dschanow befahl ihm,
     aufzustehen, das sei ja peinlich. Andererseits rührte ihn die
     Reaktion des debilen Fleischbergs, zu der nichtmal das Zeigen einer Waffe
     nötig gewesen war. Dieser Stier von einem Menschen hätte sich
     jederzeit auf ihn setzen und zerquetschen können, stattdessen bat er
     schweißgebadet um Gnade. Seltsam, im Grunde widerwärtig, aber
     Dschanow fühlte sich geschmeichelt, es bewies ihm, welchen Ruf er
     genoß. Ehrlich gemeinte Entschuldigungen ließ Dschanow selten
     unbeachtet; er wollte von seinen Leuten gleichermaßen gefürchtet
     wie geliebt werden.
    »Schon gut, ich vergebe
     dir! Geh nach Hause, mach Feierabend! Mit niemandem ein Wort über die
     Angelegenheit!«
    Der debile Fleischberg schien
     sein Glück nicht fassen zu können, stammelte danke, danke,
     danke, bevor er sich, rückwärts taumelnd, davonmachte.
    Dschanow stellte sich auf der
     Busfahrt zurück zur Philharmonie sein eigenes Begräbnis vor,
     malte sich aus, wie die Trauernden aus aller Herren Länder, mit
     schmerzverzerrten Gesichtern über den Sarg gebeugt, bekräftigen
     würden, welch fabelhafter Mensch er doch gewesen sei. Bei solchen
     Phantasien wurden sogar ihm selbst die Augen feucht, und er kam zum Schluß,
     daß es ein Jenseits geben müsse, ansonsten der Tod eine nicht
     hinzunehmende riesige Verschwendung wäre. Wenn es aber ein Jenseits
     gab, eines, das womöglich noch begrüßenswert war, mußte
     man sich keine überzogenen Gedanken darüber machen, wenn man
     irgendwen etwas früher in dessen Genuß brachte. Das Leben
     schien kaum mehr als ein Spiel zu sein, ein lustiges Vorspiel, bevor es
     irgendwann ernst wurde. Mit dieser Philosophie im Ärmel trotzte
     Dschanow allen Aufdringlichkeiten von Moral und Gewissen.
    Lidia wohnte eine weitere
     Nacht bei Kai, schlief auf dessen Sofa, danach hatte der Schlüsseldienst
     ihre Wohnung zur Festung umgebaut, und sie bestand darauf, in die eigenen
     vier Wände umzusiedeln. Innerlich war Nabel froh darum, denn nur mit
     der Rückkehr nach Hause konnte Lidia damit beginnen, das Trauma des
     Überfalls zu überwinden und sich am eigenen Schopf aus dem Tief
     zu ziehen. Zusätzlich wurde so Nabels Versuchung ein Riegel
     vorgeschoben, ihr nachts, wenn er betrunken war, näherzukommen, und
     sei es nur mit elegisch-poetischen Worten, die er alten Meistern entlehnt
     und für seine Zwecke zurechtgelegt hatte. Gegen vier Uhr morgens,
     wenn seine Rotweinkaraffe geleert war und er vom Balkon ins Wohnzimmer
     taumelte, betrachtete er die schlafende Geliebte auf dem Sofa und spürte
     ein Bedürfnis, sich neben sie zu legen, sie zu streicheln, zu
     liebkosen. Wünsche, die er mit letzter Kraft zu unterdrücken
     verstand, indem er sich unter die kalte Dusche stellte, bis ihm jene Wünsche
     nicht mehr anzusehen waren.       
    Lidia kämpfte. Es gab
     erste Zeichen, daß sie auf dem Weg zurück zur alten Stärke
     war, hier und da ein Lächeln zum Beispiel, ein Zwinkern oder ein
     Flachs, der tags zuvor noch undenkbar gewesen wäre. In der letzten
     Nacht, auf dem Sofa, als sie tat, als ob sie schlafen würde, hatte
     sie Nabels Schritte nah an sich vorbeigehen hören und daran gedacht,
     wie es jetzt wäre, in die Arme genommen zu werden. Sie hätte es
     geduldet, wahrscheinlich. Und war dann doch froh gewesen, daß er nur
     ganz kurz innehielt, um sie zu betrachten.
    Jetzt standen die beiden in
     ihrem Flur, genau an der Stelle, wo sie den Schlag abbekommen hatte. Ihr
     Puls ging schnell.
    »Wart mal, Kai!«
    Nabel wollte sich eben von
     ihr verabschieden. Diesmal hatte er daran gedacht und einen hervorragenden
     Amarone für ihr Weinregal gekauft. Ohne Lidias Wissen hatte er einem
     seiner Leute, Johansson, den Befehl gegeben, von der Straße aus ihr
     Apartment nachts zu bewachen, als Treber verkleidet. Mehr konnte er beim
     besten Willen nicht tun, auch wenn ihm selbst das noch als zu wenig
     vorkam.
    »Was denn?«
    »Hast du König
     jetzt von deiner Verdächtigen-Liste gestrichen?«
    Nabel mochte die Frage nicht
     mit ja oder nein beantworten. »Vielleicht hängt er irgendwie
     mit drin, aber ich denke nicht, daß er die

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