Aussortiert
beschissenen Leben?«
Anatol bekam Angst, bekam
Schweißausbrüche, wiederholte leise, fast kläglich:
»Ich werde nie mehr Kaugummi kauen in meinem ganzen beschissenen
Leben.«
»Die paar Sekunden lang
wirst du deinen Schwur doch halten, oder?«
»Bitte!« Anatol
fiel auf die Knie. »Ich tue alles! Bitte nicht!«
Dschanow befahl ihm,
aufzustehen, das sei ja peinlich. Andererseits rührte ihn die
Reaktion des debilen Fleischbergs, zu der nichtmal das Zeigen einer Waffe
nötig gewesen war. Dieser Stier von einem Menschen hätte sich
jederzeit auf ihn setzen und zerquetschen können, stattdessen bat er
schweißgebadet um Gnade. Seltsam, im Grunde widerwärtig, aber
Dschanow fühlte sich geschmeichelt, es bewies ihm, welchen Ruf er
genoß. Ehrlich gemeinte Entschuldigungen ließ Dschanow selten
unbeachtet; er wollte von seinen Leuten gleichermaßen gefürchtet
wie geliebt werden.
»Schon gut, ich vergebe
dir! Geh nach Hause, mach Feierabend! Mit niemandem ein Wort über die
Angelegenheit!«
Der debile Fleischberg schien
sein Glück nicht fassen zu können, stammelte danke, danke,
danke, bevor er sich, rückwärts taumelnd, davonmachte.
Dschanow stellte sich auf der
Busfahrt zurück zur Philharmonie sein eigenes Begräbnis vor,
malte sich aus, wie die Trauernden aus aller Herren Länder, mit
schmerzverzerrten Gesichtern über den Sarg gebeugt, bekräftigen
würden, welch fabelhafter Mensch er doch gewesen sei. Bei solchen
Phantasien wurden sogar ihm selbst die Augen feucht, und er kam zum Schluß,
daß es ein Jenseits geben müsse, ansonsten der Tod eine nicht
hinzunehmende riesige Verschwendung wäre. Wenn es aber ein Jenseits
gab, eines, das womöglich noch begrüßenswert war, mußte
man sich keine überzogenen Gedanken darüber machen, wenn man
irgendwen etwas früher in dessen Genuß brachte. Das Leben
schien kaum mehr als ein Spiel zu sein, ein lustiges Vorspiel, bevor es
irgendwann ernst wurde. Mit dieser Philosophie im Ärmel trotzte
Dschanow allen Aufdringlichkeiten von Moral und Gewissen.
Lidia wohnte eine weitere
Nacht bei Kai, schlief auf dessen Sofa, danach hatte der Schlüsseldienst
ihre Wohnung zur Festung umgebaut, und sie bestand darauf, in die eigenen
vier Wände umzusiedeln. Innerlich war Nabel froh darum, denn nur mit
der Rückkehr nach Hause konnte Lidia damit beginnen, das Trauma des
Überfalls zu überwinden und sich am eigenen Schopf aus dem Tief
zu ziehen. Zusätzlich wurde so Nabels Versuchung ein Riegel
vorgeschoben, ihr nachts, wenn er betrunken war, näherzukommen, und
sei es nur mit elegisch-poetischen Worten, die er alten Meistern entlehnt
und für seine Zwecke zurechtgelegt hatte. Gegen vier Uhr morgens,
wenn seine Rotweinkaraffe geleert war und er vom Balkon ins Wohnzimmer
taumelte, betrachtete er die schlafende Geliebte auf dem Sofa und spürte
ein Bedürfnis, sich neben sie zu legen, sie zu streicheln, zu
liebkosen. Wünsche, die er mit letzter Kraft zu unterdrücken
verstand, indem er sich unter die kalte Dusche stellte, bis ihm jene Wünsche
nicht mehr anzusehen waren.
Lidia kämpfte. Es gab
erste Zeichen, daß sie auf dem Weg zurück zur alten Stärke
war, hier und da ein Lächeln zum Beispiel, ein Zwinkern oder ein
Flachs, der tags zuvor noch undenkbar gewesen wäre. In der letzten
Nacht, auf dem Sofa, als sie tat, als ob sie schlafen würde, hatte
sie Nabels Schritte nah an sich vorbeigehen hören und daran gedacht,
wie es jetzt wäre, in die Arme genommen zu werden. Sie hätte es
geduldet, wahrscheinlich. Und war dann doch froh gewesen, daß er nur
ganz kurz innehielt, um sie zu betrachten.
Jetzt standen die beiden in
ihrem Flur, genau an der Stelle, wo sie den Schlag abbekommen hatte. Ihr
Puls ging schnell.
»Wart mal, Kai!«
Nabel wollte sich eben von
ihr verabschieden. Diesmal hatte er daran gedacht und einen hervorragenden
Amarone für ihr Weinregal gekauft. Ohne Lidias Wissen hatte er einem
seiner Leute, Johansson, den Befehl gegeben, von der Straße aus ihr
Apartment nachts zu bewachen, als Treber verkleidet. Mehr konnte er beim
besten Willen nicht tun, auch wenn ihm selbst das noch als zu wenig
vorkam.
»Was denn?«
»Hast du König
jetzt von deiner Verdächtigen-Liste gestrichen?«
Nabel mochte die Frage nicht
mit ja oder nein beantworten. »Vielleicht hängt er irgendwie
mit drin, aber ich denke nicht, daß er die
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