Aussortiert
Zwistigkeiten wurden allein unter Türken
oder anderen Ausländern ausgetragen, dann aber mit aller Härte.
Die deutschen Kriminellen hatten die Hauptstadt längst verloren, was
Drogen betraf. Einige wenige waren noch im Nuttengeschäft tätig,
aber in den anderen Straßensportarten hatten sie sich fast
ausnahmslos als zu weich und lebensfroh gezeigt und Türken und
Albanern ihr einstiges Terrain überlassen. Die Albaner genossen einen
besonders furchteinflößenden Ruf. Denen war scheinbar alles
egal, ihre Brutalität, ihre Verachtung jeglichen Lebens, selbst des
eigenen, überstieg jede humane Vorstellungskraft. Die Türken
verteidigten ihre Bastionen in Neukölln, Kreuzberg und Treptow. Weite
Teile von Charlottenburg-Nord und Mitte waren bereits in albanischer Hand,
und selbst die als hart geltenden Russen und Weißrussen wurden ins
Abseits gedrängt. Ahmed verstand die lasche behördliche
Vorgehensweise, um nicht zu sagen: Duldung der Türken als Inkaufnahme
des geringeren Übels im Vergleich zu dem, was sonst die Stadt zu
überschwemmen drohte. Das alles hatte er an einem einzigen Nachmittag
recherchiert, was nahelegte, daß der dahinterliegende Sumpf jede
Dimension der Phantasie sprengte.
Nabel fühlte sich jung
und fit wie lange nicht. Lidias Bitte zum Abschied, er solle gut auf sich
aufpassen, hatte ihn regelrecht euphorisiert. Er mochte sich täuschen,
aber es hatte eben was in der Luft gelegen, ein kleines umherflatterndes Küßchen
oder ein Streicheln der Wange, etwas Zartes, Fragiles. Jetzt lief er wie
auf Sprungfedern durchs nächtliche Kreuzberg, spürte keine Lust,
ein Taxi heranzupfeifen, bog im Dauerlauf in die Gneisenaustraße
Richtung Südstern ein und kam an der Schleiermacherstraße
vorbei. Jetzt, da König Pfeifer als sein U-Boot benannt und enttarnt
hatte, lag im Grunde eine ganz neue Situation vor. Es war kurz vor
Mitternacht, noch nicht zu spät für einen kurzen Besuch.
Aber was wollte er von
Pfeifer wissen? Welche Wörter und Begriffe durfte er verwenden,
welche lieber nicht? Nabel zauderte, wollte nicht in die Aktivismus-Falle
tappen. So vieles mußte bedacht werden.
Pfeifer war mehrmals in
Lidias Wohnung gewesen. Er hätte sich auf irgendeine Weise einen
Abdruck ihres Wohnungsschlüssels machen können, das würde
erklären, weshalb keine Einbruchspuren gefunden wurden. Aber es war
nicht Pfeifer gewesen, der Lidia den Fausthieb versetzt hatte. Lidia hatte
außer Schemen kaum was erkennen können, nur daß der Täter
ein bulliger, kräftiger und schwerer Typ gewesen war. Das traf auf
den Leptosom Pfeifer sicher nicht zu. Und wozu hätte der die Tat in
Auftrag geben sollen? Was konnte man bei Lidia gesucht haben? Die Liste,
natürlich, Kistners Liste. Pfeiler hatte vielleicht mitbekommen, daß
Lidia sich oftmals aus dem Büro Arbeit mit nach Hause nahm.
Den Überfall hatten
Lidia und Nabel für sich behalten. Es wurde keine Anzeige erstattet,
niemand außer den beiden wußte davon, ausgenommen natürlich
der Schläger selbst und dessen Hintergrundeminenzen. Vielleicht war
dies der Ausgangspunkt, der Hebel, um Pfeifer ein wenig auf den Busch zu
klopfen oder ihn gar dazu zu bringen, daß er sich verplapperte.
Nabel drückte den
Klingelknopf. Letzten Endes nur aus einem Grund – weil er sich
anachronistisch jung fühlte und nicht bereit war, die angebrochene
Nacht in Ruhe austrudeln zu lassen. Als jedoch auf mehrmaliges Klingeln
hin niemand öffnete, fühlte er sich nicht enttäuscht, eher
erleichtert.
Am nächsten Morgen
entschloß sich Nabel zu einer veränderten Strategie. Das
Potential von Kistners Liste wollte er nicht mehr unbenutzt lassen. Von
›Kistners Liste‹ sollte dabei nicht die Rede sein.
Zweifelsfrei identifizierbare Namen von Prominenten, die sich auf der
Liste befanden, schrieb Nabel heraus. Gezielte Einzelgespräche
sollten, in diskreter Atmosphäre, ohne Staub aufzuwirbeln, die
Betreffenden aus der Reserve locken. Dazu war es nötig, daß der
wesentliche Punkt angesprochen, aufs Tapet gebracht wurde, dies jedoch von
erfahrenen Mitarbeitern, die die feine Kunst der Anspielung verstanden
und, auf der Tragfläche eines künftigen Stillschweigeabkommens,
Angst schüren konnten, ohne gleich Panik auszulösen.
Er stellte eine Arbeitsgruppe
zusammen und gab grobe Richtlinien vor. Die Beamten sollten während
des Gesprächs folgende Fragen
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