Australien 01 - Wo der Wind singt
jetzt absolut sicher, dass Annabelle nichts anderes als ein Lückenbüßer war. Ein verzweifelter Griff nach dem Glück. Ihr Vater zog Annabelle gar nicht vor, erkannte Kate plötzlich. Er versuchte nichts anderes, als einen Verlust zu überleben, der so groß war, dass er alles andere in seinem Leben überschattete. Ein Verlust, an dem er zerbrechen würde, wenn er sich nicht ganz bewusst dafür entschied, nicht zurück, sondern nur nach vorn zu blicken. Sie selbst wie auch die Farm erinnerten ihn auf unerträglich schmerzvolle Weise an all das, was er verloren hatte. Ohne seine Familie hatte die Farm für Henry Webster keinen Sinn mehr. Sie quälte ihn nur noch mit bitteren Erinnerungen. Er hatte seine Frau verloren, seinen Sohn, und durch eine Reihe von Umständen, für die vor allem sie selbst verantwortlich war, hatte er auch seine Tochter verloren. Sie erinnerte sich plötzlich wieder daran, wie er zusammen mit Nell bei der Schafschur gelacht hatte. Weil sie, Kate, so starrsinnig war, hatte er nun auch noch seine Enkeltochter verloren. Sie dachte daran, dass er in den vergangenen Wochen immer wieder versucht hatte, sie anzurufen. Sie hatte ihn immer wieder abgewiesen. Voller Entsetzen erkannte sie nun, dass allein sie für die jetzige Situation verantwortlich war. Der Verkauf der Farm war das Einzige, was Henry noch blieb. Ein purer Akt der Verzweiflung. Die Tat eines zutiefst gekränkten Mannes.
Völlig in Gedanken versunken, fuhr Kate an den üppig grünen Gärten des Government House und dann an den jungen schwarzweißen Kühen vorbei, die auf ihren Weiden am Rande des Geschäftszentrums grasten. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bis zu ihrem Termin mit Colin in der Bank blieben ihr noch zehn Minuten. Sie betätigte den Blinker und folgte dem grünen Schild, auf dem »City« stand. Sie fluchte leise und wechselte dann wieder den Fahrstreifen.
Was tue ich hier eigentlich? Als ob ein Banker ihr bescheidenes Einkommen und die zweihunderttausend aus der Lebensversicherung als ernsthafte Grundlage für einen Kauf von Bronty ansehen würde. Was war das nur für ein unsäglich naiver Gedanke. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah Nell an. Ihre Tochter hatte die ganze Zeit aus dem Fenster zum Dervent hinübergesehen und die Jachten und Boote beobachtet. Kate hielt einfach am Straßenrand an. Sie ging die Liste ihres Handys durch, bis sie Colins Nummer gefunden hatte, dann drückte sie die Wahltaste.
»Colin?«, sagte sie, als sie seine Stimme hörte. »Entschuldige bitte, dass ich dich schon wieder störe, aber könnten wir vielleicht unseren Termin streichen?«
»Sicher«, antwortete er ein wenig verwirrt. »Sollen wir gleich einen anderen vereinbaren?«
»Nein. Ich glaube, das ist nicht nötig. Trotzdem vielen Dank.«
In dem Geschäft roch es moschusartig. Die vielen Vögel, die im hinteren Teil des Ladens in ihren Käfigen piepsten und sangen, machten einen Heidenlärm. Goldfische schwammen stumm in ihren Aquarien umher, orangefarbene und schwarze Kleckse, die sich langsam durch das klare Wasser bewegten. Von den Helmen kleiner Taucher aus Plastik stiegen Blasen auf, während Süßwasserschnecken ihre Saugfüße an das Glas pressten. Kate hatte Nell an der Hand genommen und ging mit ihr an bunten Hundeleinen und Bürsten vorbei durch den Laden.
Sie blieben schließlich vor einer Vitrine stehen, in der ein kunterbunter Haufen noch ganz junger Kätzchen in geschreddertem Zeitungspapier herumtollte. Da war eine kurzhaarige getigerte Katze mit einem frechen weißen Gesicht. Ein rötlich brauner kleiner Kater mit schon stolzer Haltung. Eine Katze, so grau wie ein Tag im Winter und einer dazu passenden Persönlichkeit und eine schildpattfarbene, die gerade ein von heftigem Fauchen begleitetes Duell mit ihrem gleichermaßen gescheckten Geschwisterchen austrug.
»Welches möchtest du haben, Nell?«, fragte Kate. Nells Augen
leuchteten vor Begeisterung, als sie die Kätzchen beobachtete. Sie trat aufgeregt von einem Fuß auf den anderen und streckte dabei vor Konzentration die Zunge heraus, als sie angestrengt durch die Scheibe starrte.
»Das da«, sagte sie schließlich und zeigte in die Vitrine.
»Welches?«
»Das müde.«
»Welches meinst du?«, fragte Kate und musterte das Durcheinander von Katzen.
»Den Bordercollie da. Ganz hinten.« Kate folgte Nells Blick. Dort lag, tief in den Zeitungspapierschnitzeln vergraben, ein schwarzweißes Fellknäuel. Es hatte sich so fest zusammengerollt,
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