Australien 01 - Wo der Wind singt
Tages. Die Sonne ging gerade über dem Meer auf, und in den Tälern und Senken hing noch der Nebel, der von der See hereingezogen war. Die Männer standen vor der Scheune und versuchten, die Kälte des Morgens aus ihren Knochen zu bekommen. Sie wickelten sich fester in ihre Mäntel und Jacken und schlenderten dann zu ihrem schlammbespritzten Auto hinüber, um ihre Thermoskannen, Werkzeugkästen und Behälter mit Essen aus dem Kofferraum zu holen. Außerdem die Schlingen, in die sie sich beim Arbeiten einhängten, zerlumpte Handtücher und Arbeitsschuhe. Dann stampften sie in ihren ausgetretenen Blundstone-Stiefeln die Stufen hinauf und betraten die Scheune.
Dort hatte Kate zwischen der Wollpresse und den großen Wollbehältern eine bunte Decke ausgebreitet. Jetzt legte sie gerade Plastikbehälter mit kleinen Häppchen, Spielzeug, Decken, Kissen und Bücher darauf. Nell stand am Ende des Arbeitstisches und zog ein Wollpaddel geräuschvoll über die Bodenbretter, während sie der jungen Hündin BH, die in einem der Pferche angebunden war, im Befehlston Anweisungen gab. In ihrem roten, wattierten Mantel und den wasserfesten Hosen sah Nell aus wie eine kleine aufblasbare Puppe. Sie blickte auf, als sie die Männer hereinkommen hörte.
»Hier drin ist heute Morgen wohl Schule und Schafschur zugleich?«, fragte einer der Männer.
»Tag, Razor!«, sagte Kate und strahlte dann über das ganze Gesicht, als sie den Mann erkannte. »Ist schon ziemlich lange her, dass wir miteinander zu tun hatten.« Sie betrachtete sein vertrautes Gesicht mit den Hängebacken, die ihn wie ein altes Schaf aussehen ließen.
»Dann hast du mich vor ein paar Wochen also gar nicht gesehen? Beim … äh … deines Bruders?«, fragte Razor. Das Wort »Begräbnis!« wollte ihm offensichtlich nicht über die Lippen kommen.
»Nein, tut mir leid. Ich war … du weißt schon.«
Razor erwiderte Kates Entschuldigung mit einem verständnisvollen Blick und winkte ab. »Deine Kleine will uns heute wohl helfen?«
»Das ist Nell. Ich hoffe, dass es dich nicht stört, wenn sie hier in der Scheune bleibt.«
»Dann ist sich Ihre Ladyschaft drüben im Haus wohl zu schade, um auf sie aufzupassen?«
Kate sah das Blitzen in Razors Augen, das von einem Zwinkern und einem gequälten Lächeln begleitet wurde. In diesem Moment wusste sie, dass sie einen Verbündeten gefunden hatte. Die kommende Woche, in der alle Schafe auf der Farm geschoren werden sollten, erschien ihr mit einem Mal nicht mehr ganz so schlimm.
Razor bückte sich zu Nell hinunter.
»Bei dir alles klar, Gert?« Razor lächelte. Nell erwiderte sein Lächeln mit einem breiten Grinsen.
Kate zeigte auf den anderen Mann, der in der Nähe stand.
»Wie heißt dein Kumpel? Willst du uns nicht miteinander bekannt machen, Razor?« Der jüngere Mann, der gerade seine Schermesser an einem Nagel über seinem Platz hängte, blickte auf. Die Messer baumelten wie eine Reihe von silbernen Haifischzähnen an ihrem Kabel.
»Kate Webster und ich sind uns schon ein paar Mal begegnet«, sagte der Mann zu Razor. »Sie erinnert sich aber offenbar nicht mehr an mich.«
Kate betrachtet seine untersetzte Gestalt, den Bauchansatz und die Adlernase, konnte sich aber absolut nicht entsinnen, ihn schon einmal gesehen zu haben.
»Ich hab dich schon ein- oder zweimal auf einem B&S getroffen«, sagte er. Als Kate ihn noch immer völlig verständnislos ansah, fuhr er fort. »Jonsey. Jack Jones. Aus Campbell Town.«
Er streckte ihr seine Hand entgegen. Kate schüttelte sie und starrte ihm dabei noch immer an, so als würde in seinem Gesicht in winziger Schrift irgendetwas geschrieben stehen, was ihrem Gedächtnis auf die Sprünge half.
»Ach, komm schon! Jones ! So heißt doch jeder zweite Kerl, den
ich getroffen habe«, neckte sie ihn und lachte, um die Panik, die sie plötzlich gepackt hatte, zu überspielen. War er an jenem Abend, als sie Nick McDonnell abgeschleppt hatte, auch da gewesen? Würde er sich Nell genauer ansehen und wissen, wer ihr Vater war?
»Es gibt ein paar B&S, an die ich mich nicht mehr so ganz genau erinnern kann«, fuhr sie rasch fort. »Die kleinen grauen Zellen, in denen du gespeichert warst, sind wohl inzwischen zum Teufel gegangen. Tut mir leid.«
Er lächelte sie an. Ein schiefes, freundliches Lächeln, und zuckte mit den Schultern. Dann legte er sich ein Handtuch um den Hals, zog seine Schafscherhose nach oben, zurrte seinen gestreiften Baumwollgürtel fest und ließ dann seinen Blick langsam
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