Australien 01 - Wo der Wind singt
war sich nicht sicher, ob sie ihm auf eine so weite Distanz schon vertrauen konnte.
Also entschied sie sich dafür, die Schafe selbst ein bisschen zusammenzutreiben. Unter ihnen befanden sich möglicherweise ein paar kranke und schwache Tiere. Sie hoffte, keines von ihnen auf den Pick-up heben zu müssen, denn sie hatte sich seit Nells Geburt keinerlei schwere körperliche Arbeit mehr zugemutet. Ihr Vertrauen in ihren eigenen Körper und ihre Kraft war seit der Entbindung immer mehr geschwunden. Die sitzende Tätigkeit in dem Büro in Orange hatte das Ganze noch schlimmer gemacht.
Mit der Zeit und der entsprechenden Übung, so dachte sie, würde das Vertrauen in ihren Körper bestimmt wieder zurückkehren. Kate spürte, wie ihre Oberschenkelmuskeln arbeiteten, als sie den anstrengenden Weg den Hügel hinauf in Angriff nahm.
Als ihr Vater sie gebeten hatte, die Schafe noch vor dem Lammen zur Schur zusammenzutreiben, hätte Kate diese Aufgabe gern zu Pferd erledigt. Von Matildas Rücken aus hätte sie Grumpy nämlich wesentlich besser kontrollieren können. Es war ihr nicht leicht gefallen, Annabelle zu bitten, sich in der Zwischenzeit um Nell zu kümmern. Seit der Beerdigung hatten Kate und Annabelle es beide sorgsam vermieden, ihre gegenseitige Ablehnung offenkundig werden zu lassen.
Als Kate Annabelle an diesem Morgen gebeten hatte, sich ein paar Stunden um Nell zu kümmern, war Annabelle gerade in der Küche
beschäftigt gewesen. Natürlich hatte Annabelle keine Zeit, auf Nell aufzupassen. Der Katalog von Pflichten, den sie Kate heruntergeleiert hatte, hatte sich wie ein Mantra angehört: Da waren das Geschirr zu spülen, die Betten zu machen und die Mahlzeiten zuzubereiten, die vielen Mahlzeiten für die vielen Leute, die jetzt hier lebten. Annabelle hatte Kate dabei an eine der roboterhaften Frauen von Stepford erinnert, die kurz davor stand durchzudrehen.
Es war sehr ernüchternd für Kate, als ihr langsam bewusst wurde, wie ein Leben auf Bronty ohne Will aussah. Ohne ihn fühlte sie sich einsam und verlassen. Und ihre Stieffamilie wurde, anders als sie es sich erhofft hatte, auch mit Nell in keiner Weise warm. Amy und Aden machten sich nicht das Geringste aus kleinen Kindern und blieben schon deshalb auf Abstand. Annabelle wiederum zeigte sich Nell gegenüber unangenehm autoritär. Sie verbot ihr ständig, irgendwelche Schränke zu öffnen oder auf irgendwelche Möbelstücke zu steigen, und behandelte sie, als wäre sie ihr andauernd im Weg oder würde laufend das totale Chaos anrichten. Kate hatte überlegt, ob sie ihren Vater darum bitten sollte, auf Nell aufzupassen, aber allein die Vorstellung war ihr dann doch so fremd, dass sie sich einfach nicht dazu durchringen konnte.
Während der ersten Tage nach dem Begräbnis war Kate aufgefallen, dass ihr Vater Nell mit einer gewissen Faszination beobachtete – sie hatte sogar geglaubt, in seinem Blick erste Anzeichen einer tiefen Zuneigung zu seiner kleinen Enkeltochter zu erkennen. Als Nell Henry dann zum ersten Mal »Opa« genannt hatte, hatte Kate gesehen, wie er bei diesem Wort förmlich zusammengezuckt war. Dann aber hatte er sich zu Nell hinuntergebeugt, hatte ihr zugezwinkert und sie gekitzelt. Sie hatte gekichert und ihn zurückgekitzelt. Nell ging mit kindlicher Unbefangenheit auf Henry zu. Sie kletterte immer öfter auf seinen Schoß, um ihm irgendetwas zu zeigen oder um ihm von einer der Entdeckungen, die sie in ihrer Welt gemacht hatte, zu erzählen. Aber auch wenn sie ihn inzwischen als ihren Großvater angenommen hatte, so hatte Henry noch immer große Probleme damit, sie als seine Enkelin zu akzeptieren. Kate wusste, dass er sich deshalb auch sträuben würde,
wenn sie ihn darum bäte, auf Nell aufzupassen. Also war ihr an diesem Morgen nichts anderes übrig geblieben, als Nell einfach mitzunehmen. Heute würde es also mit dem Reiten nichts werden.
Während sie jetzt zu Fuß die Schafe umkreiste, konnte sie sehen, wie Nell eine Sultanine nach der anderen aß und dabei die Schafe beobachtete. Nell war daran gewohnt, auf irgendwelchen Koppeln zu warten. Schon auf der Farm von Tante Maureen hatte Kate die kleine Nell in ihrer Babyschale im Wagen festgeschnallt, um dann ein paar Ballen Heu an die Schafe zu verfüttern. Manchmal hatte sie Nell sogar gestillt, während sie im Schneidersitz inmitten von Schafkötteln auf der Weide saß und die Schafe um sie herum gierig das Heu fraßen. Immer wenn Kate ihr T-Shirt nach oben gezogen und ihren
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