Australien 01 - Wo der Wind singt
alle möglichen Ablenkungsmanöver überlegt, um Nell ruhig zu halten. Und um ihrem Vater zu beweisen, dass sie bei der Schafschur helfen und sich gleichzeitig um ihre Tochter kümmern konnte. Kate musste dafür eine lange Liste im Kopf behalten: Nells kleine blaugelbe Trinkflasche, die stets
griffbereit sein musste. Ihre rote Lunchbox mit ein paar Keksen. Ein Stück Obst. Ein Buch – nicht irgendein Buch, sondern eines von jenen, die sie besonders gern mochte. Einen Mantel, eine zweite Hose, falls irgendein Malheur passieren sollte, eine zusätzliche Kappe, Sonnenschutzmittel, Papiertaschentücher, Lappen, mehrere T-Shirts für warmes Wetter, Handschuhe für kaltes Wetter. Und für den Fall der Fälle hatte sie eine Flasche mit warmer Milch, Nells Kuscheldecke und ein dickes, weiches Kissen eingepackt. Diese Dinge waren alle in einer großen blauen Tasche verstaut, die Tante Maureen genäht hatte.
Jetzt aber, da ihr Vater hier war, am Wolltisch arbeitete und sich hin und wieder bückte, um sich mit Nell zu beschäftigen, spürte Kate, wie der Druck ein wenig nachließ.
Als Razor, Trev und Jonesy im Geräteraum verschwanden, um dort Pause zu machen, stellte Kate die schwere blaue Tasche neben Henry auf den fettigen Wolltisch und begann darin herumzukramen. Dann sagte sie zu ihrem Vater. »Würde es dir etwas ausmachen, Nell eine Kleinigkeit zu essen zu geben, während ich draußen die nächsten Schafe hole?«
Henry sah Kate nicht einmal an. Stattdessen wandte er seinen Blick Nell zu.
»Willst du denn mit deinem Opa etwas essen?«, fragte er und streckte ihr beide Hände entgegen. Nell sprang auf und lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu, um von ihm hochgenommen zu werden. Kate drückte Henry lächelnd eine Kindertasse in die Hand, nachdem er Nell auf seine Hüfte gesetzt hatte.
»Danke, Dad«, sagte sie, dann drehte sie sich um und verließ die Scheune. Aus dem Geräteraum drang Razors Stimme, der in schauderhaft näselndem Ton ein Lied krächzte. Dazu das rhythmische Klappern eines Löffels, mit dem jemand auf die Deckel der Kaffeebüchsen trommelte.
»Gütiger Gott! Kastriert da drin gerade jemand eine Katze?«, hörte Kate Rocker aus einem der hinteren Pferche rufen, wo er sich gerade über einem der Gitter erleichterte. Sie lächelte. Auch wenn Will nicht bei ihnen war, so war sie hier in der Scheune von Bronty bei diesen
Burschen, genau dort, wo sie hingehörte. Hier würde sie wieder zu sich selbst finden.
Draußen im hellen Sonnenschein, der den Frost vertrieben hatte, begann Kate, die Schafe in den Pferchen zu zählen. Nachdem sie die Tore geschlossen hatte, zog sie ein Notizbuch aus der Tasche ihrer Jeans und trug dann das Ergebnis ein. Sie sah sich die Scherspuren an, die die Männer auf den Rücken der Schafe hinterlassen hatten. Ihrer Beobachtung nach war Razor noch immer der schnellste und, wie sie feststellte, auch der sorgfältigste Schafscherer.
Sie pfiff Grumpy zu sich. Er kam auf sie zugesprungen, während sie ihren Blick langsam über die Koppeln schweifen ließ, dorthin, wo ihr Vater erst gestern mit dem Traktor und dem Scheibenpflug den Boden bearbeitet hatte. Das dunkelrote, umgebrochene Erdreich zeichnete sich auf dem ansonsten stumpfgrünen Hang als großes Rechteck ab. Allein der Gedanke an den Traktor löste bei Kate eine Welle großer Traurigkeit aus. Sie wandte sich ab und bückte sich, um das Tor des Unterstandes zu öffnen, während sie sich verzweifelt wünschte, dass Will noch am Leben wäre.
Als die Schafe aus der nach Moschus riechenden Dunkelheit unter dem Unterstand hervorkamen, fragte Kate sich, wie wohl der Rest des Tages laufen würde. Es warteten draußen noch einige Aufgaben auf sie: Sie musste die Schafe durch das Desinfektionsbad auf die Weide treiben, dann musste sie die Tiere aussortieren, die nicht trächtig waren und schließlich die anderen Schafe holen. Aden war keine große Hilfe, denn er war langsam wie eine Schnecke. Und auch wenn Nell und ihr Vater im Augenblick gut miteinander auskamen, so konnte sie nicht sagen, was geschehen würde, wenn Nell es leid wurde, in der Scheune herumzusitzen. Wieder spürte sie einen heftigen Schmerz, weil Will nicht mehr da war.
Als Kate ihre Arbeit vor der Scheune vorläufig beendet hatte, rollte sie das massive Tor aus Wellblech nach oben, so dass es donnerte wie bei einem Gewitter. Sie betrat die Scheune und brachte mattes Sonnenlicht mit, das sich als eine Art goldener Schleier über die Gitter
und die wolligen
Weitere Kostenlose Bücher