Auswahl seiner Schriften
fassende, zu bezeichnen haben. In dieser treffen wir alle die Künstler an, deren Thätigkeit heut' zu Tage eigentlich die Wirksamkeit der modernen Kunst ausmacht; sie ist die vom Leben schlechtweg abgesonderte Kunstwelt, in welcher die Kunst mit sich selbst spielt, vor jeder Berührung mit der Wirklichkeit – d. h. nicht eben nur der Wirklichkeit der modernen Gegenwart, sondern der Lebenswirklichkeit überhaupt – empfindlich sich zurückzieht, und diese als ihren absoluten Feind und Widersacher in der Meinung betrachtet, daß das Leben überall und zu jeder Zeit der Kunst widerstrebe, und daher auch jede Mühe, das Leben selbst zu gestalten, eine für den Künstler vergebliche und demgemäß unanständige sei: hier finden wir vor Allem die Malerei, und namentlich die Musik. Anders verhält es sich da, wo die voraus entwickelte künstlerische Empfängnißkraft das Vermögen der Empfängniß der Lebenseindrücke nur bestimmt und gestaltet, nicht geschwächt, sondern vielmehr im höchsten Sinne gestärkt hat. In der Richtung, in der sich diese Kraft entwickelt, wird das Leben selbst endlich nach künstlerischen Eindrücken aufgenommen, und die Kraft, die aus der Überfülle dieser Eindrücke zum Mittheilungsdrange erwächst, ist die eigentlich wahrhaft dichterische . Diese sondert sich nicht vom Leben ab, sondern vom künstlerischen Standpunkte aus strebt sie ihm selbst gestaltend beizukommen. Bezeichnen wir diese als die männliche, zeugungsfähige Richtung in der Kunst.
Wer etwa glauben wollte, ich hätte bei meiner gegenwärtigen Mittheilung im Sinne, mir die Glorie eines »Genie's« zu vindiziren, dem widerspreche ich im Voraus mit bestimmtester Absicht. Im Gegentheile fühle ich mich im Stande nachzuweisen, daß es ungemein oberflächlich und nichtssagend geurtheilt ist, wenn wir gewöhnlich die entscheidende Wirksamkeit einer besonderen künstlerischen Kraft aus einer Befähigung ableiten, die wir vollkommen ergründet zu haben glauben, indem wir sie kurzweg »Genie« nennen. Das Vorhandensein dieses Genie's gilt uns nämlich an sich als ein reiner Zufall, den Gott oder die Natur nach Belieben da- oder dorthin wirft, ohne daß das mit ihm verliehene Geschenk oft nur an den rechten Mann käme: denn wie oft hören wir, Dieser oder Jener wisse mit seinem Genie nicht was anfangen! Ich beziehe die Kraft, die wir gemeinhin Genie nennen, nur auf das Vermögen, das ich soeben näher bezeichnete; Das, was auf diese Kraft so mächtig wirkt, daß sie endlich zur vollen Produktivität aus sich gelangen muß, haben wir in Wahrheit als den eigentlichen Gestalter und Bildner, als die einzig wiederum ermöglichende Bedingung der Wirksamkeit dieser Kraft anzusehen, und dies ist die außerhalb dieser einzelnen Kraft bereits entwickelte Kunst, wie sie aus den Kunstwerken der Vor- und Mitwelt zu einer allgemeinsamen Substanz sich gestaltet, und verbunden mit dem wirklichen Leben, auf das Individuum in der Eigenschaft derjenigen Kraft wirkt, die ich bereits anderswo die kommunistische genannt habe. Es bleibt unter diesem Alles erfüllenden und gestaltenden Eindrucke der Kunst und des Lebens selbst dem Individuum zunächst also nur Eines als sein eigen übrig, nämlich: Kraft, Lebenskraft, Kraft der Aneignung des Verwandten und Nöthigen, und diese ist eben jene von mir bezeichnete Empfängnißkraft, die – sobald sie rückhaltslos liebevoll gegen das zu Empfangende ist – in ihrer vollendetsten Stärke nothwendig endlich zur produktiven Kraft werden muß. In Zeiten, wo diese Kraft, wie die Kraft des Individuums überhaupt, durch die staatliche Zucht oder die gänzliche Ausgelebtheit der anregenden äußeren Lebens- und Kunstform durchaus vernichtet worden ist, wie in China oder am Ende der römischen Weltherrschaft, sind auch die Erscheinungen, die wir Genie's nennen, nie vorgekommen: ein deutlicher Beweis dafür, daß sie nicht durch die Willkür Gottes oder der Natur in das Leben geworfen werden. Dagegen kannte man diese Erscheinung ebensowenig in den Zeiten, wo jene beiden schaffenden Kräfte, die individualistische und die kommunistische, in fesselloser Natürlichkeit immer neu zeugend und gebärend sich gegenseitig durchdrangen: dieß sind die sogenannten vorgeschichtlichen Zeiten, in denen Sprache, Mythos und Kunst in Wahrheit geboren wurden; damals kannte man Das, was wir Genie nennen, ebenfalls nicht: Keiner war ein Genie, weil es Alle waren. Nur in Zeiten, wie den unserigen, kennt oder nennt man Genie's, mit welchem
Weitere Kostenlose Bücher