Autobiografie einer Pflaume - Roman
Rosy. Ich dachte nur gerade an das, was Pauline im Bus gesagt hat.»
Ich versuche Rosy auf den Zahn zu fühlen. Kinder sind so. Sie lassen nicht locker und stochern gerne in offenen Wunden.«Manchmal denkst du zu viel, Pflaume. Pauline ist ein gutes Mädchen. Ich habe nichts gegen sie und nichts für sie übrig. Sie ist, wie sie ist, Ende, aus.»
«Wir nennen sie unter uns so wie du: ‹Dreckiges kleines Flittchen›.»
Und ich schaue Rosy wie ein kleiner Unschuldsengel an.
Rosy lacht und sagt:«Ihr solltet euch schämen, so etwas zu sagen», aber ihr Lachen sagt das Gegenteil, und wir zwinkern uns zu, Rosy und ich.
Dann fragt sie mich, ob ich Camille gern habe, und ich nehme mein Zwinkern zurück. Das mit Camille und mir geht niemanden was an. Ich nehme das letzte Plätzchen und esse es schweigend.
Rosy, die nicht doof ist, fährt sich mit der Hand durch die
Haare, als wäre sie ratlos, und das nützt gar nichts, weil ihre Haare so hart wie Stroh sind, und sie sagt mit einer komischen Stimme:«Ich habe dich auch gern, mein Pfläumchen.»
Ich schaue Rosy an und ihre Bücher und unsere Zeichnungen überall an den Wänden.
Ich denke mir, dass das alles ist, was Rosy besitzt, dass sie so allein ist wie wir, die Heimkinder, und ich trete zu ihr und gebe ihr ein Küsschen.
Wir sagen beide nichts. Das Küsschen sagt genug.
Als ich gehe, lächelt Rosy mir zu.
Und ich denke mir, dass es schade ist, dass sie keine eigenen Kinder hat, denn die hätte sie noch lieber gehabt als uns, auch wenn ich mir so viel Liebe gar nicht vorstellen kann. Rosy ist nicht der Typ, der Bierchen trinkt und mit dem Fernseher spricht.Wenn ich eine Mama wie sie gehabt hätte, wäre ich nie auf den Speicher gestiegen und hätte nie in der Kommodenschublade gekramt. Und selbst wenn ich dort gekramt hätte, hätte ich keinen Revolver gefunden. Aber wenn ich eine Mama wie sie gehabt hätte, dann wäre ich nie Camille begegnet, und deshalb ist es besser so, wie es ist. Manchmal denke ich mir, dass ich ein«strafunfähiger Minderjähriger»bin, wie der Richter gesagt hat, auch wenn ich von den Wörtern nur das Schlimmste behalte.
Unfähig.
Mir ist inzwischen klar, dass ich eine Riesendummheit gemacht habe.
Und dann denke ich mir wieder, dass ich nicht hier bei meinen neuen Freunden wäre, vor allem nicht mit Camille zusammen, wenn ich diese Riesendummheit nicht gemacht hätte.
Früher hatte ich Marcel und Grégory, aber das war nicht dasselbe.
Der dicke Marcel ist eine Flasche beim Schussern; das Einzige, was es mit ihm zu reden gab, war, zu ihm zu sagen:«Du bist eine Flasche beim Schussern», und der einzige Spaß war, sich mit ihm zu prügeln. Und das Einzige, was Grégory konnte, war, den Fußball ins Fenster zu schießen.
Ich will nicht behaupten, dass ich mir alles merken kann, aber dank Simon und den Brüdern Chafouin tut sich doch eine Menge in meinem Oberstübchen.
Die Hexe verschwindet mit ihrem Handtäschchen, das sie unter den Arm geklemmt hält, mit ihrem Mündchen ohne Lippen und ihrem doofen Hut, der aussieht wie ein Pisspott.
Camille kommt aus dem Zimmer.
Ihre Augen sind nicht so grün wie sonst.
«Ich weiß nicht, warum sie mich besuchen kommt, um mir lauter Gemeinheiten zu sagen.»
«Sag es Madame Papineau», sage ich,«dann kommt die Hexe nicht mehr.»
«Das habe ich schon getan. Ich habe es auch Madame Colette erzählt. Aber ich bin klein, Pflaume, und ich weiß, dass mir niemand glaubt.»
«Doch, ich, ich glaube dir.»
Und wir sehen uns mit weit aufgerissenen Augen an, und die Augen von Camille bekommen wieder ihre schöne grüne Farbe.
«Wenn andere Leute dabei sind, ist sie nicht wiederzuerkennen. Sie tut so mütterlich, streichelt mir den Kopf, sagt: ‹Arme Kleine›, und ich finde das ekelhaft. Ich will ihre Hände nicht auf meinem Körper und ihre Worte nicht in meinen Ohren haben, und ich reiße mich los und sage: ‹Hör auf mit deinem Getue, das tust du doch nur, weil die Heimleiterin da ist oder der
Richter oder Madame Colette, aber wenn wir allein sind, dann sagst du Gemeinheiten zu mir. Ich habe Angst vor dir, ich will dich nicht sehen›, und dann macht sie einen ganz runden Mund und legt die Hand auf ihr Herz und sagt zum Richter oder zu Madame Papineau oder zu Madame Colette: ‹Sie steht noch unter Schock, die arme Kleine, man darf ihr nicht böse sein. Sie richtet ihre Aggressivität gegen mich, den einzigen Menschen, den sie noch hat, und ich habe Verständnis für das arme Ding,
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