Autobiografie einer Pflaume - Roman
schaut das Bild an, als wäre sie hineingetreten.
«So sieht es bei mir zu Hause aus», sagt sie und streichelt den Strand mit dem Finger, und wieder kommen dieTränchen, und wieder ist die Geburtstagsstimmung im Eimer.
«Ich habe Hunger!», ruft Jujube, ausnahmsweise im richtigen Moment.
Niemand denkt mehr daran, traurig zu sein. Der Hunger ist viel wichtiger. Geraspelte Karotten, Fisch mit Nudeln und zuletzt der Schokoladenkuchen von Ferdinand, dem Koch, auf dem Rosy und Camille neun Kerzen anzünden, und dann singen wir total falsch:«Happy Birthday», und Béatrice pustet die Kerzen aus und pustet so stark, dass das Kakaopulver vom Kuchen Ahmed bestäubt.
Er ist jetzt genauso schwarz wie Béatrice.
Jujube verschlingt seine Portion mitsamt dem Kerzenwachs und hinterher die von Alice, die lieber mit der lachenden Puppe spielt, und dann ist ihm übel, und er geht mit Rosy auf die Krankenstation.
Wir anderen bleiben bei Monsieur Paul.
Béatrice schläft an seiner Schulter ein, und wir hören die Puppe lachen und die Brüder Chafouin ihr Wörterbuchspiel spielen.
«Ataxie.»«Lymphatisch.»«Nephritis.»
Und danach höre ich nichts mehr, denn ich schlafe auch, den Kopf auf den Knien von Camille.
Mit meinen Fragen löchere ich Rosy bis zum Gehtnichtmehr.«Wann fahren wir?»
«Kommt Pauline auch mit?»
«Was nehmen wir im Koffer mit?»«Was essen wir in den Bergen? »
Und Rosy sagt:«Nicht auszuhalten, du bist ja die reinste Fragenstreubüchse.»
«Was ist eine Streubüchse?», frage ich.
Und Rosy verdreht die Augen, und ich sage:«Das habe ich nur zum Spaß gesagt», und Ahmed schnieft, und keiner weiß, warum, und Rosy sagt:«Ihr wollt mich offenbar zu Tode martern», und Antoine antwortet:«Du bist wohl nicht bei Trost, Rosy! Wie sollten wir ohne dich zurechtkommen?»
Und das war alles, bevor wir in den Zug gestiegen sind mit unseren Skiern und unseren großen Koffern, bis auf den von Jujube, der ihn stehen lassen hat, als er im Bahnhof Kuchen gekauft hat. Ich habe mein Gesicht an das Zugfenster gedrückt
und habe das Foto von Rosy angeschaut, die nicht mitfährt, und es war, als würde ich sie wenigstens ein bisschen mitnehmen.
Rosy sagt, dass die Berge sehr hoch sind und dass sie sich schon davor fürchtet, auf einen Stuhl zu steigen oder nur aus dem Fenster zu schauen: Davon wird ihr ganz komisch, als hätte sie Lust, sich ins Leere fallen zu lassen. Ich habe gesagt, dass ich aufpassen würde, dass sie keine solchen Dummheiten macht, und sie hat mir geantwortet, dass sie sowieso zu alt für Schneeballschlachten ist.
Gegen das Alter nützt mein Aufpassen nichts.
Ich bin mit schwerem Herzen abgefahren, und Simon hat zu mir gesagt, dass wir Rosy auf jeden Fall anrufen können, und da ist mein Herz leichter geworden, und dann sind wir in den Bergen angekommen, und ich habe völlig vergessen, dass ich Rosy anrufen wollte.
Pausenlos wälze ich mich im Bett hin und her.
Deshalb stehe ich ganz leise auf, um die anderen nicht zu wecken, und besuche Eierkopf, der in einem anderen Zimmer schläft.
«Schläfst du?», frage ich.
Und ich mache das Licht an und schüttle den Heimwehstreuer.
«Was ist, Pflaume, was machst du denn hier?»
Ich setze mich auf die Bettkante und sage:«Ich kann nicht einschlafen.»
«Geh in dein Zimmer und zähle Schäfchen», antwortet dieser Trottel und dreht sich zur Wand.
Ich warte ein bisschen und sage dann:«In meinem Zimmer gibt es keine Schäfchen, und außerdem ist es zu dunkel zum Zählen.»
Eierkopf sagt nichts, und das ärgert mich.
Ich schreie ihm ins Ohr:«In meinem Zimmer gibt es keine Schäfchen!»
Und der Erzieher springt wie mit der Nadel gepiekst auf:«Spinnst du komplett?»Und er reibt sich die Augen und schaut mich an, als hätte ich gewonnen.«Okay, erzähl mir, warum du nicht schlafen kannst», und er gähnt mit seinen ganz gelben Zähnen.
Und ich erzähle von der Kälte, durch die einem die Zehen in den dicken Schuhen zu Eis gefrieren, und von den in Fäustlinge eingepackten Händen (die Fäustlinge sind unpraktisch, wenn man Süßigkeiten auswickeln will). Sie sind zu nichts zu gebrauchen als dazu, Skistöcke zu halten, und das über dem Kopf, weil wir die meiste Zeit auf unseren vier Buchstaben im Schnee sitzen.
Auf den Skiern kommt man sich vor, als würde man auf Orangen gehen.
Man fällt dauernd hin.
Und es gelingt mir nicht, im Pflug zu fahren, denn stattdessen falle ich nach vorne oder nach hinten oder zur Seite, genau wie
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