Autobiografie einer Pflaume - Roman
meines Lebens.
Und dieses Geschenk will ich nicht verderben. Ich balle die Fäuste und reibe mir die Augen und schaue sie alle an, und sie singen alle:«Happy Birthday, unsere Pflaume!»
Alle sind da. Sogar Ferdinand, der Koch. Sogar der Richter und Madame Papineau. Und alle meine Freunde und die Heimwehstreuer, die gar nicht zum Gerippebesichtigen gefahren sind. Und Monsieur Paul und Madame Colette. Und Yvonne, die Krankenschwester, und Gérard, der Fahrer. Und Victor, der Camille an der Hand hält. Und Raymond, der hinter
einem Kuchen verschwindet, wie ich noch nie einen gesehen habe. Es ist ein riesengroßes Schokoladenherz, in das ich am liebsten sofort hineinbeißen würde.
Aber das ist noch nicht alles: Es gibt Unmengen Geschenke, alle schön eingewickelt, an denen Luftballons festgemacht sind.
Und mitten in meiner großen Familie sitzt eine kleine Dame mit lächelnden blauen Augen in einem Rollstuhl, und ich kenne sie nicht, denke mir aber, dass sie die Großmutter von Victor sein muss, und ich weiß nicht, ob es an ihren lächelnden blauen Augen liegt oder an den Armen, die sie ausstreckt, aber ich schmiege mich in ihre Arme und küsse sie auf die Backe, und ich spüre, dass die Arme sich um mich schließen, und ich sehe, wie die Luftballons davonschweben, und mir ist, als würde ich auch davonfliegen, wenn ich die Dame mit den blauen Augen losließe.
Die sehr alten Leute sind genau wie Kinder, nur älter, und abends kommen ihre Zähne in das Glas mit Wasser.
Simon sagt auch, das Alter wäre wie ein Gummiband, an dem die Kinder und die sehr alten Leute ziehen, jeder an einem Ende, bis der Gummi reißt, und jedesmal kriegen dabei die alten Leute den Gummi ins Gesicht, und danach sterben sie.
Die Dame mit den blauen Augen heißt Antoinette, und Victor ist ein echter Glückspilz.
Als ich klein war, war meine eigene Großmutter schon im Himmel, wo sie für die Engel Pullover strickt.
Ich kenne sie nur von einem Foto.
Alle warten auf den kleinen Vogel, der gleich rauskommt, nur meine Großmutter nicht, weil sie an einem Pullover strickt.
Aber auf der Erde kann sie den nicht fertig stricken: Sie kriegt eine«Herzattacke»und stirbt kurz nach dem Foto.
Antoinette strickt nichts als ihre Sätze, aber die kriegt sie nicht immer zu Ende gestrickt. Das ist nicht ihre Schuld, denn sie ist stocktaub, auch wenn man ihr in die Ohren schreit. Manchmal denkt man fast, sie würde sich nur taub stellen, weil es ihr ganz gut passt, nichts zu hören. Außerdem kann sie Lippen lesen, genau wie wir. Ihre Haut ist so gelb wie Quittenpaste. Ihre Haare sind weiß, und ich ziehe daran, um zu sehen, ob es vielleicht falsche Haare sind, und Antoinette schreit, und ich sage:«Entschuldigung.»Sie redet nicht viel, aber sie sieht die Leute an, als könnte sie durch sie hindurchsehen. Sie summt immer ein Lied, aber sie weiß nicht mehr, welches.
Sie sagt:«Ein Lied, das älter ist als ich.»
Sie wohnt in einem Haus, das ein bisschen an Fontaines erinnert, nur dass die Heimwehstreuer hier Alpenpfleger sind und die Kinder alte Leute wie Antoinette.
Das nennt man«Altersruhesitz».
Sie sagt:«Ich habe mich schon lange zur Ruhe gesetzt, aber dafür brauche ich nicht die Gesellschaft anderer Tattergreise. Ach, mein Kind, du wirst sehen, das Leben ist grausam und … Was wollte ich gerade sagen?»
Und sie summt vor sich hin.
Alle Kinder von Fontaines wollen mit Antoinette spielen, und ich kann sehen, dass sie genauso zu schummeln versucht wie ich, um zu gewinnen. Sie ist sogar sauer, wenn sie verliert, und Raymond sagt:«In deinem Alter!», und sie schaut ihn an, als wäre er ein Ungeheuer. Schussern kann sie besser als Simon. Und Simon kann es von uns Kindern am besten. Aber das Spiel
mit dem Satz, der immer länger wird, kann sie überhaupt nicht. Sie vergisst dauernd das Wort, das man ihr gesagt hat, und dann erfindet sie einfach ein anderes und behauptet, es hätte«Tomate»geheißen und nicht«Abführmittel», und manchmal sagen wir dann:«In Ordnung, Antoinette», damit sie nicht wegen den Wörtern von Boris ewig lange beleidigt ist. Und beim Mensch-ärgere-dich-nicht dreht sie die Würfel mit den Fingernägeln um und sagt:«Das ist gelogen!», wenn Jujube sie verpetzt, weil der Gewinner ein Extrastück Schokoladenkuchen bekommt.
Im Schmusen ist sie Weltmeister, und jeder von uns hat schon auf ihrem Schoß gesessen außer Jujube.
Sie hat gesagt:«Du bist leider zu schwer.»
Und Jujube hat sich an einem
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