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Er hat sie sogar gefordert.«
»Das verstehe ich nicht.« Erika schüttelte fassungslos den Kopf. »Er hat seine Arbeit doch über alles geliebt. Sie war das wichtigste in seinem Leben.«
»Das steht vollkommen außer Frage. Er hat seine Arbeit und sein Land über alles geliebt.«
»Aber weshalb hat er sich hier in Wien niedergelassen«, warf Saul ein, »wenn er sein Land so sehr geliebt hat? Warum nicht in Tel Aviv oder Jerusalem oder...?«
Dem pflichtete auch Erika bei. »Das hat uns einiges zu denken gegeben. Saul hat sich mit seinem Geheimdienst auf folgendes geeinigt: Sie würden ihn in Ruhe lassen, falls er untertauchen würde. In diesem Fall hatte er auch von den anderen Geheimdiensten nichts zu befürchten. Als Gegenleistung für wichtige Informationen, die er ihnen zukommen ließ, erklärte sich der CIA außerdem bereit, seine Verstöße gegen die Vorschriften unter den Tisch zu kehren. Wir mußten uns möglichst aus dem Weltgeschehen zurückziehen, was wir auch getan haben. Aber mein Vater hätte sich doch nicht hier niederlassen müssen. Wir haben ihn wiederholt darum gebeten, bei uns zu wohnen, um seinen Enkel heranwachsen sehen zu können. Er hat dieses Angebot jedoch jedesmal abgelehnt. Ich konnte das nie verstehen. An den sogenannten Errungenschaften der Zivilisation war meinem Vater noch nie etwas gelegen gewesen. Solange er nur seine heiße Schokolade und seine Pfeife gehabt hätte, wäre es ihm überall auf der Welt gutgegangen.«
»Vielleicht«, erwiderte Misha.
Erika sah ihn eindringlich an. »Hast du uns etwas verschwiegen?«
»Du hast mich gebeten, dir den Hergang noch einmal zu erklären. Also werde ich das jetzt tun: Nachdem dein Vater entgegen seiner Gewohnheit weder am Morgen noch am Abend in seinem Stammcafe auftauchte, ließ ihm dessen Besitzer - Saul hat recht, er arbeitet für uns - durch einen seiner Leute ein paar belegte Brote und Kakao bringen, als hätte dein Vater dies telefonisch bestellt. Der Agent klopfte an die Wohnungstür. Keine Antwort. Er klopfte ein zweites Mal und versuchte die Tür zu öffnen. Sie war nicht abgeschlossen. Als der Agent darauf die Wohnung mit gezogener Waffe betrat, fand er sie leer vor. Das Bett«, Misha deutete auf die Schlafzimmertür, »war ordentlich gemacht.«
»Das ist typisch für meinen Vater«, flocht Erika ein. »Er war schon immer ein Ordnungsfanatiker. Er machte immer sofort nach dem Aufstehen das Bett.«
»Ganz richtig«, nickte Misha. »Demzufolge war dein Vater in der Nacht zuvor nicht mehr zu Bett gegangen, nachdem er aus dem Cafe nach Hause gekommen war. Oder er hat am Morgen seines Verschwindens nach dem Aufstehen noch sein Bett gemacht und ist dann aber nicht, wie es sonst seine Gewohnheit war, in sein Stammcafe gegangen.«
»Demnach bleibt also für sein Verschwinden ein Zeitraum von vierundzwanzig Stunden«, warf Saul ein.
»Joseph lag jedenfalls nicht krank zu Hause«, fuhr Misha fort. »Anfänglich nahm der Agent an, ihm wäre etwas zugestoßen. Zum Beispiel ein Verkehrsunfall. Allerdings lagen weder bei der Polizei noch in den Krankenhäusern irgendwelche Informationen über ihn vor.«
»Sie haben eben >anfänglich< gesagt«, meldete Saul sich wieder zu Wort.
Misha sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Sie haben gesagt, der Agent hätte anfänglich angenommen, daß Joseph etwas zugestoßen wäre, nachdem er die Wohnung verlassen hatte. Was hat den Agenten dazu veranlaßt, seine Meinung zu ändern?«
Mit einem schmerzlichen Gesichtsausdruck griff Misha in seine Jackentasche und holte zwei Gegenstände daraus hervor. »Das hat der Agent auf dem Couchtisch gefunden.«
Erika stöhnte leise auf.
Alarmiert durch ihre plötzliche Blässe, wandte Saul sich ihr zu.
»Die zwei Lieblingspfeifen meines Vaters«, stieß Erika gequält hervor. »Er hatte immer zumindest eine von ihnen bei sich.«
»Was also auch geschehen sein mag«, erklärte Misha, »ist demnach hier geschehen.«
»Und er hat die Wohnung nicht freiwillig verlassen.«
2
Über den Raum hatte sich lähmendes Schweigen gelegt. Der Regen klatschte lauter gegen die Fensterscheiben.
»Unsere Leute suchen bereits nach ihm«, erklärte Misha schließlich. »Wir ziehen in Erwägung, befreundete Geheimdienste zu bitten, uns bei der Suche behilflich zu sein. Das Problem ist allerdings, daß wir keinerlei Anhaltspunkte haben. Wir wissen nicht, wer ihn entführt haben könnte und aus welchem Grund. Und warum wurde Joseph nicht einfach ermordet, falls seine
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