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von Erikas Vater zu sehen, aber Saul erinnerte sich an ihn als einen großen, kräftigen Mann Ende sechzig mit buschigen weißen Augenbrauen und dichtem weißem Haar, das ihm in allen Richtungen vom Kopf abstand; er ging leicht vornübergebeugt und hatte eine etwa sieben Zentimeter lange Narbe an seinem spitzen Kinn. Erikas Vater hatte von sich aus nie über diese Narbe gesprochen. Und wenn man ihn danach fragte, gab er nie Auskunft darüber, wovon die Verletzung herrührte. »Das gehört der Vergangenheit an«, war alles, was er diesbezüglich von sich gab. Und seine grauen Augen nahmen dabei hinter seiner Brille einen unendlich traurigen Ausdruck an.
Saul klopfte hin und wieder seinem Sohn aufmunternd auf den Rücken und beobachtete ansonsten Erika, die langsam ihre Blicke durch den Raum wandern ließ.
»Kannst du mir den Hergang bitte noch einmal schildern?« wandte Erika sich schließlich an Misha.
»Vor vier Tagen«, begann Misha seufzend, »erschien Joseph nicht wie gewohnt in seinem Stammcafe, um seine morgendliche Tasse Kakao zu sich zu nehmen. Der Inhaber des Cafes dachte sich erst noch nichts dabei; doch dann tauchte dein Vater auch am Abend nicht auf. Dein Vater kam nämlich immer zweimal am Tag in dieses Cafe - auch wenn er sich nicht besonders gut fühlte und zum Beispiel eine Erkältung hatte.«
»Und mein Vater hatte kaum einmal eine Erkältung.«
»Ja, er war für sein Alter noch außergewöhnlich gesund.«
An diesem Punkt meldete sich überraschend Saul zu Wort. »Er erschien sozusagen dienstlich in diesem Cafe.«
Misha sah ihn erstaunt an.
»Vermutlich ist der Inhaber des Cafes einer eurer Leute«, fuhr Saul darauf fort. »Mossad.«
Misha erwiderte nichts.
»Joseph ging doch nicht nur wegen seiner heißen Schokolade in dieses Cafe?« fragte Saul darauf. »Sondern behielt, obwohl er pensioniert war, weiterhin einen extrem geregelten Tagesablauf bei, um jederzeit ohne großes Aufsehen zu erregen, kontaktiert werden zu können.«
Misha schwieg noch immer.
»Nicht, daß seine Dienste noch in Anspruch genommen worden wären«, fuhr Saul fort. »Aber man kann schließlich nie wissen. Manchmal ist ein erfahrener, ehemaliger Geheimagent, der offiziell längst in den Ruhestand geschickt worden ist und allem Anschein nach jegliche Geheimdienstkontakte aufgegeben hat, genau der richtige Mann für bestimmte Missionen. Und Joseph hatte auf diese Weise das Gefühl, nicht ganz zum alten Eisen zu gehören - vielleicht würde man ihn ja noch mal für einen solchen Auftrag heranziehen. Selbst wenn der Geheimdienst also keine Verwendung mehr für ihn gehabt hätte, verlieh er Joseph damit das Gefühl, noch gebraucht zu werden.«
Misha hob kaum merklich die Augenbrauen.
»Und dazu kommt noch - vermutlich war dies sogar der ausschlaggebende Grund -, daß Sie auf diese Weise vollkommen unauffällig im Bilde bleiben konnten, daß Joseph sich weiterhin bester Gesundheit erfreute und keinerlei Übergriffen von seiten alter Feinde zum Opfer gefallen war. Sie sahen darin also auch eine Möglichkeit, ihn unauffällig zu beschützen, ohne ihn dadurch in seinem Stolz zu kränken.«
Erika trat auf Misha zu. »Ist das wahr?«
»Dein Mann ist wirklich auf Draht.«
»Das weiß ich«, entgegnete Erika. »Hat Saul recht?«
»Was soll daran schon auszusetzen sein? Wir haben uns um ihn gekümmert und ihm gleichzeitig das Gefühl vermittelt, noch gebraucht zu werden.«
»Natürlich ist daran nicht das geringste auszusetzen«, pflichtete ihm Erika bei. »Es sei denn...«
»Er hat nicht für uns gearbeitet, falls du darauf anspielen solltest«, erwiderte Misha. »Allerdings muß ich zugeben, daß ich ihm nur zu gern hin und wieder einen Auftrag zugeschanzt hätte. Nichts Gefährliches selbstverständlich. Aber was Observierungsaufgaben und die Beschaffung von Informationen betraf, war dein Vater nach wie vor eine erstklassige Kraft. Du darfst schließlich nicht vergessen, Erika, daß dein Vater auf seinen eigenen Wunsch in den Ruhestand getreten ist, nicht auf unseren.«
»Wie bitte?«
»Willst du damit sagen, das hättest du nicht gewußt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Trotz seines Alters hätte ich durchaus dafür sorgen können, daß er noch länger für uns hätte arbeiten können«, erklärte Misha. »Wir sind keineswegs in einem Maß mit talentiertem Nachwuchs gesegnet, daß wir es uns leisten könnten, auf so erfahrene alte Leute zu verzichten. Aber dein Vater hat ausdrücklich um seine Pensionierung gebeten.
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