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sowie alte Männer und Frauen. Die offenen Türen der Leichenverbrennungsöfen.
Saul ließ keines der Fotos aus. Erschüttert über dieses unvorstellbare Ausmaß an menschlicher Brutalität, legte er die Fotos beiseite. Er starrte auf das Tagebuch. »Ich möchte nicht wissen, was hier...« Seine Stimme erstarb.
»Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, nachdem ich das alles gesehen und gelesen hatte«, erklärte die Frau schaudernd. »Ich wußte zwar von solchen Kriegsgräueln, aber sie Schwarz auf Weiß zu sehen, von ihnen zu lesen ...«
»Zu lesen?« Erika streckte zögernd ihre Hand nach dem Tagebuch aus, um sie dann jedoch wie vor etwas Schrecklichem abrupt wieder zurückzuziehen.
»Ja, ich habe das Tagebuch gelesen«, bestätigte ihr die Frau. »Avidan lebte mit seinen Eltern, seiner Schwester und seinen zwei Brüdern in München. 1942 wurden sie von der SS in das Konzentrationslager Dachau gebracht. Es lag nur zwanzig Kilometer von ihrer Wohnung entfernt. Sie mußten in einer Munitionsfabrik arbeiten und erhielten kaum genügend zu essen. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Avidan und die restlichen Mitglieder seiner Familie arbeiteten also zwei Jahre lang unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen für Hitlers Kriegsindustrie. Und dann starben sie einer nach dem anderen. Die erste war Avidans Mutter; sie brach vor Entkräftung an ihrem Arbeitsplatz zusammen und starb kurz darauf. Als Avidans Vater eines Tages nicht mehr aus eigener Kraft aufzustehen imstande war, schleppten ihn ein paar SS-Männer ins Freie, um ihn vor den Augen der anderen KZ-Insassen zu erschießen. Seine Leiche wurde drei Tage lang liegen gelassen, bevor sie schließlich weggeschafft und in eine der Gruben vor dem Lager geworfen wurde. Als nächste starb Avidans zehnjährige Schwester. Sein älterer Bruder wurde von einem Posten mit einem Knüppel erschlagen, weil er diesem zu langsam arbeitete. Sein zweiter Bruder drehte durch und öffnete sich mit einem Holzsplitter die Pulsadern. Avidan selbst hatte jedoch einen unbezähmbaren Überlebenswillen. Im September 1944 mußte er mit einer Reihe anderer Häftlinge mit einem Lkw Spirituosen und Lebensmittel für eine SS-Feier holen. Als der Lkw unterwegs einen Reifendefekt bekam, konnten in dem allgemeinen Durcheinander mehrere Häftlinge entfliehen. Die SS-Männer fingen aber drei der vier Flüchtlinge binnen kürzester Zeit wieder ein und erschossen sie. Nur Avidan entkam und konnte sich in die Schweiz durchschlagen. Mein Mann und ich haben dieses Anwesen 1978 gekauft. Ich weiß nicht, wem es während des Krieges gehört hat. Jedenfalls fand der damalige Besitzer eines Nachts Avidan, der sich im Stall versteckt hatte. Er zeigte Verständnis für Avidans Lage und stellte ihm die Hütte zur Verfügung. Dort blieb er dann von Oktober 1944 bis zum Kriegsende im Mai des darauffolgenden Jahres, um anschließend nach Palästina auszuwandern.«
Die Frau hielt in ihrer Erzählung inne. Gespenstische Stille breitete sich über den Raum. Saul hatte so gebannt zugehört,
daß ihm erst nach einer Weile die Bedeutung eines Details bewußt wurde, das die Frau erwähnt hatte.
»Avidan ist hier also im Oktober 1944 aufgetaucht?« Saul wurde es plötzlich ganz heiß. »Haben Sie nicht auch gesagt, er wäre letztes Jahr ebenfalls im ...«
»Ja, er ist letzten Oktober hier aufgetaucht«, nickte die Frau. »Angesichts der schrecklichen Erlebnisse, die er in seinem Tagebuch aufgezeichnet hatte, kann es sich dabei eigentlich um keinen Zufall gehandelt haben. Offensichtlich ließ ihn die Vergangenheit nicht mehr los. Irgend etwas muß ihn dazu getrieben haben, hierher zurückzukehren. Die Eintragungen in seinem Tagebuch sind so packend und drastisch, als hätte er sich der Schrecken seiner Vergangenheit nicht nur erinnert, sondern als hätte er sie noch einmal durchlebt.«
»Er muß schrecklich unter seinen Erinnerungen gelitten haben«, warf Erika schaudernd ein.
»Wie dein Vater«, nickte Saul.
»Aber Sie sagten doch eben, 1945 wäre Avidan im Mai von hier fortgegangen«, fuhr Erika fort. »Dieses Jahr ist er allerdings schon im Februar fort. In diesem Punkt gibt es also keine Übereinstimmung.«
»Es sei denn, daß er ursprünglich durchaus beabsichtigt hatte, bis Mai hier zu bleiben«, warf die Frau ein. »Vielleicht ist er durch besondere Umstände gezwungen worden, früher von hier zu verschwinden. Er war plötzlich weg und hat nichts mitgenommen. Vielleicht mußte er ganz abrupt
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