Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Palisade bildeten, war der Grund, warum Lhiannon sich entschieden hatte, nicht bei Boudicca zu bleiben. Ardanos’ weißes Gewand hatte inzwischen eine schlammige Farbe, genau wie ihre blaue Priesterinnenrobe. Neue Kleidung in einem hübschen, neutralen Grau könnten sie gut gebrauchen. Aber auf die mussten sie wohl noch eine ganze Weile verzichten – wie auf so vieles andere auch.
Da ertönte ein lautes Rufen. Sie sah nach oben und folgte mit wachsamen Augen der Flugbahn des Steingeschosses, das durch die Luft geschleudert kam. Die Katapulte der Römer hatten zwar eine sehr starke Schleuderkraft, doch das Gebiet auf dem Hügel lag durch ein doppeltes und ausgedehntes Bollwerk so geschützt, dass die Geschosse abgesehen von der andauernden nervlichen Zerreißprobe kaum Schaden anrichteten. Hin und wieder schlugen Steingeschosse auf die Verteidigungspalisaden, aber sie hatten noch genug Pfähle, um nachts zu ersetzen, was tags zerstört wurde, und sie zudem mit den Steinen zu verstärken, mit denen der Feind sie nebenbei versorgte.
Warum war in den epischen Gesängen der Barden nie die Rede vom schieren Elend eines Belagerungszustandes in strömendem Regen? Sie hoffte, dass es den Römern ebenso elend erging, dass ihre eisernen Harnische rosteten, dass die bleibeschlagenen Rammbalken ihrer Bailiste aus dem Leim gingen und dass ihre Lederzelte verrotteten.
Mit einem tiefen Seufzer stand Lhiannon auf, zog sich ihren Umhang weit über den Kopf, während der Regen immer stärker wurde.
»Wir haben diesen Ort länger als jeden anderen verteidigt«, sagte Caratac und hustete, als ein Luftzug den Rauch über der Feuerstelle in seinen Wirbel zog, hinaus um das Rundhaus, in dem sich die Stammesführer versammelt hatten. Lhiannon presste sich den Schal vor das Gesicht und schöpfte Kräutertee aus dem Kessel. Der Regen prasselte dumpf auf das Strohdach, während das Feuer leise zischelte – vertraute Geräusche, die sie nur in Augenblicken wie diesem wahrnahm, wenn jeder still darauf wartete, bis der Rauch sich verzogen hatte.
»Länger heißt nicht auf immer«, sagte Antebrogios, dem Tancoric die Verteidigung übertragen hatte. Er hustete, entweder vom Rauch oder von einer Schleimhautentzündung, an der fast jeder hier krankte. »Unsere Vorräte gehen zur Neige, und viele Männer sind krank.«
»Das ist bei den Römern nicht anders«, murrte ein anderer. »Nachts hört man sie husten, sie verfluchen das Wetter in Britannien, und sie verfluchen den Kaiser, der sie hierher befohlen hat.«
»Dann sollen sie doch heim ins sonnige Italien gehen«, brummte der Nächste. »Wenn es noch lange so weiterschüttet, würde ich am liebsten mitgehen.«
»Falls ihnen Nahrung und Männer ausgehen, dann können sie jederzeit Nachschub und Verstärkung anfordern«, hob Tancoric hervor. »Wir können das nicht.«
»Willst du damit sagen, wir sollten aufgeben?«, hakte Caratac nach und hielt Lhiannon den Becher hin, damit sie nachschenkte. Er war wie alle anderen dreckig und abgemagert, bloß noch Haut und Knochen. Sie goss nach und reichte ihm den Becher zurück. Ob er und all die anderen damals auf der Versammlung in Mona so große Töne gespuckt hätten, wenn sie diesen Tag vorhergesehen hätten?
Sie sah zu Ardanos, der in einer schattigen Ecke neben der Tür saß, und wusste, dass er die gleichen Gedanken hatte. Auch er war in den vergangenen Wochen schmal geworden, die Wangen hohl, der Blick gequält. Dabei hatte er zuvor für jeden stets ein humorvolles oder aufmunterndes Wort gehabt, doch in der letzten Zeit war er ungewohnt still geworden. Er versuchte nicht einmal mehr, sie in sein Bett zu bekommen, und das beunruhigte sie am allermeisten. Aber auch sie selbst war still geworden. Sie wandte den Blick wieder ab. Wenn wir darüber sprechen, dann müssen wir uns eingestehen, dass es keine Hoffnung mehr auf den Sieg gibt …
»Die Römer dort draußen sind uns zahlenmäßig weit überlegen«, sagte Caratac ruhig und bestimmt. »Ihre Legionen sind weit größer als die der Durotriger, sie sind in der Überzahl, so wie damals gegen die Trinovanten in der Schlacht an der Tamesa. Aber die Truppen aller Britannier, die Truppen aus ganz Britannien, übertreffen sie nicht! Wenn wir uns nicht ergeben, sie an jeder Festung, jedem Fluss, jedem Stück Boden zittern und bluten lassen, dann wird die Zeit kommen, da all unser Gold und Korn den Verlust ihrer Männer nicht mehr aufwiegen kann. Und genau darum müssen wir so lange wie irgend
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