AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
fertiggeworden war, als seien ihre Erbauer gestört worden. Der Aushub lag mitten im Gang und darunter.
Die Fackel flammte noch einmal auf und verglomm.
Jermyn rührte sich nicht. Die Dunkelheit flutete heran und schloss sich um ihn, aber in dem letzten, kurzen Aufleuchten hatte er etwas zu seinen Füßen gesehen. Er warf den nutzlosen Stumpf weg und hockte sich nieder. Vorsichtig tastete er über den steinigen Boden. Da - da war es. Zuerst erschrak er, dann packte er hastig zu.
Er hatte sich nicht geirrt. Kalt und leblos spürte er sie unter seinen Fingern - eine kleine, menschliche Hand.
Der Vorarbeiter, der immer wieder unruhig in die Grube spähte, zuckte zusammen, als das Seil ruckte. Auch die Sammler kamen aufgeregt näher, aber sie hörten nur Jermyns Stimme:
»Lasst noch ’ne Fackel runter!«
Der Bulle, der zurückgekommen war, nachdem er auf seiner Baustelle nach dem Rechten gesehen hatte, rief erschrocken:
»Jerrmyn, bist du noch da unten, Brruder? Was ist los? Sollen wirr dich retten?«
»Untersteht euch! Es ist alles in Ordnung, ich brauch nur mehr Licht.«
Die Männer sahen sich an, Schausteller, Vorarbeiter und vornehme Sammler und alle rückten weiter an den Rand der Grube heran.
Eine Zeitlang geschah nichts, die Unruhe der Wartenden wuchs, dann ruckte das Seil ein zweites Mal.
»Ich brauche eine Bahre und Gurte.«
Die Männer sahen sich befremdet an, einige der Sammler begannen, an den Nägeln zu kauen.
Es dauerte eine Weile, bis das Verlangte besorgt war und nachdem die Bahre hinabgelassen war, dauerte es abermals. De Poccole sah aus, als wolle ihn jeden Augenblick der Schlag treffen. Endlich ruckte es wieder.
»Zieht mich rauf.«
Der Vorarbeiter, der Bulle und Witok legten sich so mächtig ins Zeug, dass Jermyn wie von einem Katapult geschleudert heraufschoss. Um ein Haar hätte er sich den Schädel an den zersplitterten Balkenenden eingeschlagen.
»Oi, Obacht, ihr seid wohl nicht gescheit!«
Er sprang zu den wartenden Männern auf den Bretterboden, sein Gesicht war schweiß- und dreckverschmiert, seine Fingernägel schwarz und blutig, aber seine Augen glitzerten.
»So, jetzt langsam ... und vorsichtig, wenn ihr das versäbelt, mach ich euch zu Tanzmädchen, allesamt!«
Trotz der furchterregenden Drohung schien er glücklich, wie der Bulle und Witok ihn selten erlebt hatten.
Langsam schwebte die Bahre über den Rand, Jermyn griff danach, zog sie heran und ließ sie sanft zu Boden gleiten. Er kniete neben ihr nieder und die Sammler rückten vor, fast von Sinnen vor Neugier. Auch der Vorarbeiter, der Bulle und Witok reckten die Hälse. Sie alle hielten den Atem an. Auf der Bahre lag eine Gestalt, eine golden glänzende, menschliche Gestalt.
Jermyn löste die Gurte und richtete die Figur vorsichtig auf. Er hielt sie auf Armeslänge von sich und sie sahen, was er aus dem Dunkel der Zeiten ans Licht gebracht hatte.
Es war die Gestalt eines Jünglings, eines Knaben beinahe noch, auf der Schwelle zum Mannsein, nicht größer als ein zwölfjähriges Kind. Seine Glieder waren schlank und wohlgeformt. Frei stand er da, die linke Hand in die Hüfte gestützt, die rechte dem Betrachter werbend entgegengestreckt.
Bis auf kleine Flügel an seinen Knöcheln und Handgelenken und einen merkwürdigen, geflügelten Hut auf dem lockigen Haar, war er nackt und er trug seine Nacktheit so selbstverständlich, dass Kleidung an ihm Torheit gewesen wäre.
Ein Knabe nach Gestalt und Haltung, doch in seinem Gesicht lag nichts Kindliches. Es war ein altersloses, wissendes Antlitz. Boshafter Schalk lauerte in dem kleinen Lächeln und wenn auch die Einlagen aus den schmalen Augenhöhlen gefallen waren, so konnte man sie sich doch ihr spöttisches Glitzern vorstellen.
An manchen Stellen, an den Ellenbogen, den zierlichen Knien und dem kecken Kinn, war die Vergoldung abgeblättert und grünlich schimmernde Bronze schaute darunter hervor. Der größte Teil des Goldes aber war erhalten, und es hätte nicht der Flügel an seinen Füßen und Händen bedurft, um zu erkennen was er war - ein goldner, lächelnder Gott.
Die Männer starrten ihn mit offenen Mündern an und Jermyn betrachtete ihn so stolz, als habe er ihn nicht nur gefunden, sondern geschaffen.
»Merses«, flüsterte einer der Sammler und die anderen nickten wie im Traum.
»Ja, Merses, kein Zweifel, der Mittler zwischen Göttern und Menschen, der Überbringer der göttlichen Ratschlüsse«, murmelte de Poccole ergriffen.
»Und Merses, der
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