AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
und mit jäher Zärtlichkeit betrachtete sie seinen harten, mageren Leib.
Sie stritten häufig genug, nicht selten ärgerte sie sich über seinen Hochmut, seine rücksichtslose Überheblichkeit. Und doch war er ihr so lieb wie kein anderer Mensch. Bei ihren Unternehmungen verstanden sie sich ohne ein Wort. Sie lachten zusammen, oft auf Kosten anderer, zugegeben, und sie konnten zusammen schweigen. Und in manchen Nächten, wenn sie sich innig geliebt hatten, geschah es, dass sie jenen anderen Jermyn in den Armen hielt. Den einsamen, vernachlässigten Jungen, der verletzte, um nicht selbst verletzt zu werden. Dann schmolz sie beinahe vor Mitgefühl und konnte nicht genug tun, um ihm zu zeigen, dass er nicht mehr alleine war.
Zuletzt die halsabschnürende Angst, die ihr den kalten Schweiß auf die Stirn trieb, wenn ihm ein Unheil drohte. Bei ihrem abenteuerlichen Leben erwachte diese Angst immer aufs Neue und sie musste eingreifen, auch wenn er es übel nahm.
Es war richtig gewesen, ihm zu folgen, sie würde für ihn das Leben in der seelenlosen Steinwüste der Großen Stadt in Kauf nehmen. Sie würden zurückkehren, weil er dorthin gehörte und sie zu ihm. Aber ab und zu würde sie darauf bestehen, hierher zu kommen und er würde nachgeben, ihr zuliebe.
Erfüllt vom Zauber der Stunde, fragte sie träumerisch:
»Woran denkst du, Jermyn?«
Die Antwort kam ohne Zögern.
»An Fladen mit Sirup, geräucherten Käse, eingemachte Früchte, Grütze mit Honig, gerührte Eier, gebratenen Fisch, warte, was war es noch, ah, ja, diesen unglaublich guten Mandelseim, den Kamante zusammenbraut, und natürlich Kahwe, mindestens drei Kannen voll!«
»Ah, du hast die saure Milch mit gerösteten Körnern vergessen und die Essigfrüchte und Krapfen und geschmorte Pilze und Nudelsuppe und meine Bilha!«
»Stimmt, aber die Milch und die Essigfrüchte kannst du behalten und mit der Bilha wartest du bis nach dem Essen.«
Ninian seufzte.
»Du bist schrecklich«, schimpfte sie, »jetzt hast du mich daran erinnert, wie hungrig ich bin, ich hatte es ganz vergessen.«
Die weiche, zärtliche Stimmung war verflogen, sie spürte, wie ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog.
»Tatsächlich? Ich habe die ganze Zeit an nichts anderes gedacht, höchstens vielleicht noch daran, dass wir jetzt die Juwelen der d’Ozairis unter die Leute bringen könnten.«
Jermyn setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. »Gibt’s nicht irgendwas in diesem dämlichen Wald, was man essen kann? Wurzeln oder Pilze oder Beeren oder sowas?«
Ninian schüttelte ungeduldig den Kopf. »Beeren und Pilze wachsen nur im Herbst, du ahnungsloser Stadtmensch, und mit Wurzeln kenn ich mich nicht aus. Trinken kannst du allerdings soviel du willst. Wasser ist viel gesünder als deine schwarze Giftbrühe«, stichelte sie.
»Hexe - du bist schuld!« Er beugte sich zu ihr und packte sie unsanft im Nacken. Sie zog an seinem ausgestreckten Arm, er verlor das Gleichgewicht und stieß sich unsanft die Ellenbogen an dem rauen Gestein.
»Au, na warte!«
Er rollte sich auf sie und drückte sie auf den Felsen. Ninian zappelte, aber ohne rechten Nachdruck. Schließlich lag sie still und sah ihn aus ihren hellen Augen ernsthaft an. Sein Kopf sank tiefer, bis ihre Augen sich schlossen. Seine Lippen streiften ihren weichen Mund. Er küsste sie sehr sanft und murmelte: »Wenn wir schon kein Frühstück kriegen ...«
Ihre erhitzten Glieder verschmolzen miteinander und einen wonnevollen Augenblick lang überließ Ninian sich dem süßen Spiel, dann drehte sie den Kopf zur Seite und schob ihn von sich.
»Nicht, Jermyn. Wenn wir jetzt weitermachen, können wir nicht mehr aufhören, danach sind wir schlapp und träge, schlafen wieder ein und kommen nicht bei Tageslicht nach Neri zurück. Auf eine zweite Nacht im Wald kann ich verzichten.«
Jermyn seufzte bedauernd und rollte von ihr weg. »Schätze, du hast recht, mir ist es weich und trocken auch lieber, ohne lästige Steinchen und Stacheldinger, wo man sie überhaupt nicht brauchen kann.«
Er stand auf, reckte sich, dass seine Knochen knackten und bückte sich nach den schwarzen Hosen. Sie kleideten sich an, der raue Stoff war bretthart geworden und kratzte auf der Haut. Als sie fertig waren, blickten sie von ihrem Felsen aus den Fluss hinunter.
»Wir werden den ganzen Tag unterwegs sein, aber wenn wir am Wasser bleiben, sollten wir den Weg leicht finden«, meinte Ninian zuversichtlich. »Am Abend sind wir wieder in Neri, wo ein
Weitere Kostenlose Bücher