AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
Vielleicht wurde noch alles gut. Die kleine Wunde war wohl durch das Laufen gereizt und er war zerschlagen von der langen Wanderung. Morgen, wenn er geschlafen hatte, würde es ihm besser gehen und sie würden den Rest des Weges schnell hinter sich bringen.
Sie rückte nah an ihn heran und versuchte, nicht an den nagenden Hunger zu denken. Jetzt erst spürte sie die eigene Erschöpfung. Dankbar schloss sie die Augen und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er legte den Arm um sie und mit leichterem Herzen schlief sie ein.
Es wurde eine unruhige Nacht. Sie erwachte, weil er sich neben ihr unruhig hin- und herwarf. Das Zittern hatte wieder begonnen und wollte nicht aufhören, obwohl sie noch mehr Laub über ihn schaufelte und ihn mit Armen und Beinen umschlang. Sie döste ein und erwachte davon, dass er sie stöhnend von sich stieß und als sie nach ihm griff, glühte seine Haut unter ihrer Hand.
Von diesem Augenblick an fror und glühte er abwechselnd. Ninian schlief nicht mehr, sie saß neben ihm und wischte ihm die Stirn mit dem abgerissenen Ärmel. Auch als es in den Stunden vor Morgengrauen empfindlich kühl wurde und sie vor Übernächtigung und Kälte mit den Zähnen klapperte, blieb Jermyn unverändert heiß. Dann begann er zu reden und sie glaubte, es gehe ihm besser. Er setzte sich auf.
»Wir versuchen es gleich noch mal, Ninian.«
»Lass uns warten, bis es hell ist, Liebster.«
»Nein, nein, jetzt sofort! Wenn es hell ist, sieht doch jeder, dass wir hier am Turm hängen. Komm, ich will der erste sein, der diese Festung knackt.«
Er machte Anstalten aufzustehen und bestürzt hielt sie ihn fest. Er phantasierte! Er glaubte, sie wären bei dem missglückten Einstieg in die Schatzkammer der d’Ozairis, mit dem die ganze unglückselige Geschichte begonnen hatte.
So ging es weiter, er plante, beschrieb in abgerissenen Sätzen ihren Weg und brüstete sich mit seinen Erfolgen. Als die Nacht fortschritt, wurde seine Stimme undeutlicher. Ninian schlug das Herz bis zum Hals, als sie plötzlich die raue Jungenstimme hörte.
»Nee, nich Ganev, ich hab echt nich mehr gezogen heut, hab alles rausgerückt ... auf Ehre, Ganev ... nich kneifen, nich kneifen ...«
»Jermyn, Jermyn, wach auf, es gibt keinen Ganev mehr!«
Sie konnte das abgerissene Schluchzen nicht ertragen und rüttelte ihn. Er verstummte, aber danach hörte sie immer wieder die fremde Stimme, ängstlich, aber auch drohend und höhnisch, bis sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Aus den Satzfetzen erfuhr sie Dinge, die sie nicht wissen wollte. Es war ihm übel mitgespielt worden, aber er hatte ebenso grausam ausgeteilt.
Gegen Morgen wurde er still und obwohl sie sich dagegen wehrte, schlief Ninian erschöpft ein.
Sie erwachte in graugrünem Zwielicht. Ein Krampf presste ihre Eingeweide zusammen und es dauerte eine Weile, bevor sie erkannte, dass sie der Hunger quälte. Hunger, wie sie ihn nie zuvor im Leben verspürt hatte. Und Durst. Ihre Lippen waren rissig, ihr Mund ausgetrocknet. Als sie sich verzweifelt aufsetzte, merkte sie, dass ihr Kittel feucht vom Tau war und gierig saugte sie die kühle Feuchtigkeit aus dem schwarzen Stoff. Viel war es nicht, aber es linderte das Brennen in Mund und Kehle.
Diese erste Not war so stark gewesen, dass ihr erst jetzt wieder die bedrückenden Ereignisse des Vortages einfielen. Schuldbewusst wandte sie sich Jermyn zu, der reglos neben ihr lag. Es erleichterte sie, dass er eingeschlafen war und sie hoffte, dass ihn der Schlaf erquicken würde, gegen den Durst musste die taunasse Kleidung helfen. Sie mussten so schnell wie möglich den See erreichen, irgendein Fischer musste doch an diesem Ende sein Netz auswerfen. Sie würde ihn zwingen, sie nach Neri zurückzubringen, dort gab es gewiss einen Heiler oder eine Kräuterweise. Aber wenn das Fieber nicht gesunken war, würde es ein mühsamer Marsch
Sie legte Jermyn sanft die Hand auf die Schulter. Aber die leisen Koseworte erstarben auf ihren Lippen. Sein Hals war klamm und kalt wie Fischhaut, der Puls unter ihren Fingerspitzen kaum zu spüren.
Hastig drehte sie ihn auf den Rücken und unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei. Sein Gesicht war eingesunken, überzogen von einer dünnen Schicht kalten Schweißes. Braune Schatten lagen unter seinen Augen und seine Lippen waren grau. Er schlief nicht, die Lider waren nur halbgeschlossen, der Atem rasselte in seiner Kehle.
Mit fliegenden Fingern löste sie den schwarzen Stoffstreifen von seinem Fuß.
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