AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Wind geschickt.
Am Morgen hatte Ninian weißen, pelzigen Schimmel an der Plane neben ihrem Lager entdeckt und vergeblich nach einem trockenen Kleidungsstück gesucht. Sie war an der Reihe gewesen, den Nachttopf zu leeren und auf dem Weg zu den Latrinengruben mit ihren zu großen Stiefeln steckengeblieben. Sie musste heraussteigen und barfuß durch den Schlamm waten, der ihr an manchen Stellen bis zu den Knien reichte. Die Fuhrknechte hatten ihre Arbeit unterbrochen und feixend zugesehen, wie sie sich, bepackt mit Stiefeln und Nachttopf, abgemüht hatte.
Voller Wut hatte sie beides gesäubert und zum Wagen zurückgebracht. Sie hatte keine Unterweisung in der Wetterkunde bekommen wie Quentin, die guten Väter hatten sie nur gewarnt, leichtfertig in das Wetter einzugreifen. Es war gefährlich, das empfindliche Gleichgewicht zu stören und bisher hatte sie sich gewissenhaft daran gehalten. Aber der unaufhörliche Regen, die allgegenwärtige Nässe brachten sie um den Verstand.
Der Wagenzug hatte sich in Bewegung gesetzt und kroch langsam über den aufgeweichten Pfad. Ninian stapfte hinterher. Der Wald hatte sich gelichtet, zu beiden Seiten des Weges lagen mächtige, moosbewachsene Findlinge im niedrigen Gestrüpp.
Unbemerkt blieb sie zurück. Zum ersten Mal dankbar dafür, im letzten Wagen des Zuges zu fahren, watete sie durch Heidekraut und Blaubeerbüsche zu einem mannshohen Felsen. Sie mühte sich ab, das schlüpfrige Gestein zu ersteigen und als sie endlich frierend oben kauerte, war ihr Kittel grün verschmiert von Algen und Moos. Mit einem Blick versicherte sie sich, dass keiner der berittenen Wächter sie gesehen hatte und hob das Gesicht in den schnurgeraden Regen, um nach einem Lufthauch zu suchen.
Es dauerte lange, bis sie auf eine kräftige Brise stieß. Sie musste ihren Geist weit in die oberen Luftschichten schicken und es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um sie herunterzuzwingen. Doch schließlich gehorchten die Sturmböen der Stimme der Erdenmutter in ihrem Ruf und brausten wütend heran. Ninian duckte sich vor ihrer Gewalt, aber ihr Herz jubelte. Das wäre ein anderes Reisen, auf den Flügeln dieser tosenden Windsbraut! Was würden die spottlustigen Knechte und die hochmütigen Kaufleute für Augen machen, wenn sie sich von dem Sturm über den Wagenzug hinwegtragen ließe ...
Die Windstöße zerrten mit feuchten Fingern lockend an Haar und Kittel, aber sie war nie über so weite Strecken mit dem Wind geflogen und außerdem wollte sie nicht zerzaust und abgerissen wie eine Vogelscheuche vor Jermyn treten.
So befahl sie den Böen nur, den Regen zu vertreiben und der Sturm fuhr in die grauen Wolken wie ein Falke in einen Taubenschwarm. Die dichte Decke, die seit Tagen über ihnen hing, riss auf, blauer Himmel leuchtete fremd, aber willkommen durch die flüchtenden Wolkenfetzen.
Ninian lachte triumphierend. Einen Teil der Sturmböen schickte sie, schwerbeladen mit Nässe, fort, aber einen kräftigen Wind hielt sie zurück, damit der durchweichte Wagenzug schneller trocknete.
Den leichten Anflug von schlechtem Gewissen fegte der Wind hinweg, als sie von dem Findling hinunter in den Morast sprang. Auf dem schlammigen Weg war es nicht leicht, den Zug einzuholen, aber schließlich war sie nahe genug, um einen Wagenring zu ergreifen und sich in das Fuhrwerk zu schwingen. Sie unterdrückte einen Aufschrei. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich die Schienenbeine an Kayes Truhen aufgeschlagen hatte. Von dem Getöse aufmerksam geworden, drehte er sich vom Kutschbock herunter und blinzelte kurzsichtig in das Dämmerlicht.
»Bist du das, Ninian?«, näselte er, »wo bist du gewesen?«
Die schleppende Stimme ärgerte sie, wie so oft.
»Draußen.«
»Was hast du gemacht?«
»Wind herbeigeholt und die Wolken verjagt«, fauchte sie und hängte die klobigen Stiefel außen an den Wagenkasten. Als sie sich umdrehte, starrte er sie dümmlich an.
»Aha, haha«, gackerte er, »da wird's ja bald aufhören zu regnen.«
»Genau! Und jetzt guck weg, ich will mich umziehen. Einen trockenen Fetzen muss es doch noch geben.«
Sie begann zwischen Kleidern und Decken zu wühlen.
»Sag mir Bescheid, wenn du ihn findest«, scherzte Kaye zaghaft, aber unter ihrem kalten Blick zog er sich eingeschüchtert zurück. Ninian verdrehte gereizt die Augen und zerrte beide Strohmatten beiseite. Unter Kayes Matte fand sie, was sie suchte. Sorgfältig in Wachstuch gewickelt lag dort ein dickes Bündel. Sie öffnete es und stieß
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