AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
einen kleinen Laut des Entzückens aus. Zwei Stoffballen kamen zum Vorschein, schön gewebt und unberührt von jeglicher Feuchtigkeit.
Ohne zu zögern, schlüpfte sie aus ihren nassen, schmutzigen Kleidern, wickelte mehre Längen des schimmernden Stoffes ab und hüllte sich hinein. Sie schauderte vor Vergnügen, als sie das weiche Gewebe auf der nackten Haut spürte und griff auch nach dem zweiten Ballen. Der Stoff war dünn, aber wenn sie ihn in vielen Lagen um sich wand, wärmte er wie eine dicke Decke. Sie rubbelte ihr nasses Haar ab, schob alles, was auf ihrer Wagenseite lag, zu Kaye hinüber und rollte sich in dem seidenen Kokon auf ihrer Strohmatte zusammen.
Über ihr zerrte der Wind an der Plane und sie lächelte zufrieden. Die Skrupel wegen der Wettermacherei hätte sie schon viel früher überwinden sollen. Seit zehn Tagen regnete es. Seit sie Tillholde verlassen hatte ...
Sie kroch tiefer in ihr Nest.
Zehn Tage nur. Ihr Magen krampfte sich zusammen, wenn sie an das Unbekannte dachte, das vor ihr lag. Als sie ins Haus der Weisen gekommen war, hatte sie nicht die mindeste Aufregung empfunden. Ob sie sich ebenso verändert hätte, wenn Jermyn nicht dort gewesen wäre?
Sie dachte jetzt oft an ihn. Manchmal versuchte sie, sein Bild heraufzubeschwören – rothaarig, von schmächtiger Gestalt, ein höhnisch verzogenes Gesicht mit abweisenden, schwarzen Augen. Es beunruhigte sie. Er war kein anziehender Mensch. Wie oft sie sich gestritten hatten – mit niemandem war sie öfter über Kreuz geraten. Wenn sie sich jedoch vorstellte, nie mehr mit ihm zu streiten, ihn nie wieder zu sehen, schnürte ihr eine unerträgliche, drängende Unruhe die Kehle zu und sie verfluchte das gemächliche Gezuckel der Wagen.
Sie zog den weichen Stoff enger um sich und genoss die wohlige Wärme, die sich zum ersten Mal seit Tagen in ihren Gliedern ausbreitete.
Die erste, wilde Begeisterung ihres Aufbruchs war im Dauerregen beinahe ertrunken. Kälte und Schlamm, das ungewohnte Leben des Wagenzugs und der lächerliche Genosse, der ihr aufgedrängt worden war, hatten sie an ihrem Entschluss zweifeln lassen. Mehr als einmal war sie nahe daran gewesen, Luna zu besteigen und umzukehren. Doch in Tillholde erwartete sie das gleiche, eintönige Leben, vor dem sie geflohen war, nichts hätte sich geändert und so hatte sie die Zähne zusammengebissen und war geblieben. Leicht war es ihr nicht gefallen.
Von Kaye hatte sie die viel zu großen Stiefel annehmen müssen, als ihre eigenen unbrauchbar geworden waren und er hatte ihr auch die Filzkapuze gegeben. Ihr Reitkleid und die gewalkte Jacke hatten sich mit Dreck und Nässe vollgesogen, sie trockneten nicht mehr. Ihr einziger Ersatz waren die grauen Gewänder aus dem Haus der Weisen und sie hatte jämmerlich darin gefroren.
Sie hatte aufgeweichtes Brot gegessen, zähes Salzfleisch und verhutzelte Dörrfrüchte und bitteren Tee getrunken. Er wurde morgens für alle gekocht und am Ende des Tages war nur noch eine kalte, wässrige Brühe übrig.
Ihr Magen knurrte und sie dachte sehnsüchtig an Berits heiße, süße Grütze, die sie an ihrem letzten Tag in Tillholde verschmäht hatte. Von den Wagensparren baumelte der Wachstuchbeutel mit ihrer Wegzehrung. Ein Rest doppelt gebackenes Brot und getrocknete Apfelringe mussten noch darin sein, aber sie mochte sich aus ihrem Nest nicht rühren. Wenn es nicht mehr regnete, würden sie das Kochzelt aufstellen, dann gab es etwas Warmes. Als habe er ihre Gedanken gelesen, erschien Kayes Kopf in der Wagenöffnung.
»Gibt's noch was essen?« Suchend bewegte er den dünnen Hals hin und her, im Halbdunkel des Wagens konnte er sie nicht sehen. Sein Gesicht, in dem alles nach vorne, der langen, gebogenen Nase zustrebte, reizte sie, wie es das vom ersten Augenblick an getan hatte.
»Lass mich in Ruhe«, antwortete sie schnippisch. »Ich schlafe!«
Gehorsam verschwand der Kopf und Ninian schnitt eine Grimasse. Sie wusste nicht, was sie mehr ärgerte – die schleppende Redeweise, sein albernes Aussehen oder sein Kleinmut. Niemals setzte er sich zur Wehr, wie schlecht man ihn auch behandelte. Manchmal schien ihr die größte Härte der Reise, dass sie ihre Tage in Gesellschaft dieses Hanswursts verbringen musste.
Die letzten Tage hatten sie nicht freundlicher gegen ihn gestimmt. Missmutig hockte er auf dem Kutschbock und lenkte mehr schlecht als recht die mageren Ochsen. Saßen sie zusammen im dumpfen Mief des Wagens, klagte er über das Wetter, die Enge,
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