AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
dass er sie abstieß. Sie verstand sich selbst nicht und aufs Neue kamen ihr die Tränen.
»Es tut mir leid, ich wollte dich nicht kränken«, murmelte sie, »aber ich bin so müde ...«
Jermyn hatte stumm zugehört. Ausdruckslos sah er auf sie herunter, doch die Farbe war in sein Gesicht zurückgekehrt.
»Dann schlaf jetzt«, sagte er rau, »da, im Bett, wenn es dich nicht stört, dass ich das Gold hier durch in den Turm bringe.«
»Nein, nein«, flüsterte sie, kroch auf das Lager und raffte die Decken um sich. Eine Weile lag sie mit zugekniffenen Augen und verkrampften Gliedern, bis die Erschöpfung siegte. Ihre Anspannung löste sich und mit einem letzten, dankbaren Seufzer schlief sie ein.
Wie ein Schlafwandler verließ Jermyn das Gemach. Mit steifen Beinen kletterte er in die Halle hinunter und trug zwei Fackeln hinauf in die zerstörte Zimmerflucht, denn der Himmel hatte sich bewölkt und es war stockfinster. Er band immer zwei Goldsäcke zusammen, hängte sie sich über die Schultern und kletterte über den Pfeilerrest nach oben. Er bewegte sich mechanisch, bis er sich das Schienbein an den Steinen aufriss und der Schmerz ihn zu sich brachte.
Er legte die Leiter an und stapelte die Säcke vor dem Loch in der Wand. Als sie alle oben waren, brachte er sie paarweise auf den Turm, wo er sie durch die Fensteröffnung in die Wachstube gleiten ließ. Die Treppe war schon lange eingestürzt, niemand gelangte zu diesem Versteck, es sei denn, er konnte fliegen oder klettern. Die Strapazen der vergangenen Tage machten sich auch bei ihm bemerkbar, er brauchte den größten Teil der Nacht um die Arbeit zu vollenden. Einmal wachte Ninian auf und murmelte schlaftrunken: »So...soll ich dir helfen?«
»Nein«, knurrte er und schulterte zwei Säcke.
»Nun bist du böse«, klagte sie und schlief schon wieder. Schließlich rührte sie sich nicht mehr und in dem schweigenden Haus arbeitete Jermyn mit verbissenem Eifer, bis er den letzten Sack im Turm verstaut hatte.
Als er endlich völlig zerschlagen durch das Loch in der Wand ins Haus zurückkroch, fiel das graue Licht der Morgendämmerung auf das schlafende Mädchen.
Ächzend stieg er die zwei Stufen zu ihrem Lager empor und setzte sich neben sie. Im tiefen Schlaf hatten sich ihre Züge entspannt, sie wirkte friedlich, aber auf ihren Wangen sah er immer noch Tränenspuren. Sanft strich er mit dem Finger darüber. Sie lächelte und der Knoten in seinem Inneren löste sich.
Was war er für ein Narr! Wie kam er darauf, dass sie seine Belohnung war, ein Preis, wie die fünftausend Goldstücke für die Beschaffung des Brautschatzes? Was sie gab oder nicht gab, bestimmte sie selbst. Sie war zu ihm gekommen, weil sie ohne ihn nicht leben mochte, das hatte sie gesagt. Warum machte er sich also Sorgen? Er sollte ihr Zeit lassen – ja, Zeit, die brauchten sie, Zeit um sich aneinander zu gewöhnen, an dieses gemeinsame Leben, das sie ebenso wollte wie er. Und sie vertraute ihm. Sie war vor seiner Berührung nicht zurückgeschreckt und hatte sich bedenkenlos zum Schlafen hingelegt. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass er ihr Gewalt antun könnte. Er musste Geduld haben – das Wichtigste war, dass sie hier war und dass sie blieb.
Eine Weile saß er so bei ihr, ohne sie zu berühren. Schließlich schlich er in den Übungsraum, riss sich die verschwitzten Kleider vom Leibe und kroch auf die schmale Pritsche.
Als Wag wenig später in seine Küche torkelte, war in dem uralten Gemäuer nichts anderes zu hören als der morgendliche Gesang der Vögel.
17. Tag des Weidemondes 1464 p. DC
Jermyn schlief weit in den Vormittag hinein und als er erwachte, war sein erster Gedanke: Wasser. Heißes Wasser, viel heißes Wasser für seine schmerzenden Glieder und kaltes für seine ausgedörrte Kehle, aber für beides musste er aufstehen. Unten in der Halle klapperte es. Wags Stimme schwebte empor, er schwatzte eifrig, der faule Lump. Jemand lachte, ein helles Mädchenlachen.
Mit einem Ruck fuhr Jermyn hoch. Er ächzte, aber mit einem Schlag war er hellwach. Ninian! Ninian war gekommen, sie hatten den Brautschatz geholt und Duquesne an der Nase herumgeführt. Und er besaß einen gewaltigen Haufen Goldstücke ...
Er wälzte sich von seinem Lager und humpelte fluchend durch den Raum auf der Suche nach einem halbwegs sauberen Hemd, quälte sich in die grauen Hosen und stolperte auf nackten Füßen die Leiter hinunter.
Ninian und Wag saßen am Küchentisch, der mit Brot, Käse, einer
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