AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Mannes war groß, diesseits des Flusses gab es kaum einen Fleck, den er nicht auf die eine oder andere Weise erreichen konnte. Jenseits des Flusses aber war nichts zu holen. Nur wenige reiche Familien lebten dort, es gab keine bedeutenden Bauwerke oder Plätze, die Leute mit gut gefüllten Beuteln anziehen konnten. Außerdem herrschten dort andere Gesetze unter den Herren der Nacht.
»Erlaubt Ihr, dass ich mich zu Euch setze?«
Die Frage war höflich gestellt und als Jermyn aufblickte, sah er einen gut gekleideten Mann mit ergrautem Haar. Er trug einen ärmellosen, schwarzen Mantel über violettem Untergewand wie die Rechtsgelehrten und einen langen Stab mit gläsernem Knauf.
»Wie es Euch beliebt, der Platz ist frei«, erwiderte Jermyn ebenso höflich, aber er war auf der Hut. Das linke Ohrläppchen unter dem schwarzen Barett war gekappt.
Der Mann lüpfte umständlich den Mantel, setzte sich und neigte lächelnd den Kopf.
»Erlaubt, dass ich mich vorstelle, Magister Priam zu Euren Diensten. Ich komme im Auftrag des Ehrenwerten Fortunagra. Er bedauert, dass es zu Missverständnissen gekommen ist, aber«, er beugte sich vertraulich vor, »die einfachen Burschen sind bisweilen etwas übereifrig. Er hatte nur den Wunsch geäußert, Euch zu sehen. Ich bitte Euch um Vergebung.«
Er lächelte, doch seine Augen blieben kalt. Gespannt, wie es weitergehen mochte, lächelte Jermyn ebenso falsch zurück.
Magister Priam räusperte sich.
»Nun möchte mein Herr Euch jedoch gerne sprechen und bittet Euch, ihm heute Abend in seinem Haus die Ehre zu geben. Darf ich ihm sagen, dass er mit Euch rechnen kann? Es wird zu Eurem Schaden nicht sein.«
Jermyn schwieg nachdenklich und der würdige Notar senkte die schweren Lider unter dem bohrenden, schwarzen Blick. Er verschloss sich und Jermyn erwiderte belustigt:
»Wenn es dem ehrenwerten Herrn so wichtig ist, so werde ich ihm die Ehre erweisen. Er darf mich erwarten.«
Ärger stieg wie eine kalte, blaue Wolke in dem Rechtsgelehrten auf, aber er beherrschte sich vollendet. Er erhob sich, empfahl sich mit einer eleganten Verbeugung und schritt würdevoll hinaus. Jermyn grinste, das Spiel begann ihm zu gefallen.
Er ließ sich Zeit. Erst nach Einbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Weg und schlenderte gemächlich zum Haus des vornehmen Mannes. Es war ein alter Stadtpalast, der sich mit vielen Nebengebäuden von einem beleuchteten, prächtigen Platz bis tief in das dahinter liegende Wohnviertel erstreckte.
Jermyn erwog einen Augenblick, frech am Hauptportal zu klopfen. Doch er bezweifelte, dass die Lakaien von seinem Kommen unterrichtet waren. Seine Geschäfte mit den dunklen Elementen der Stadt hielt der Ehrenwerte fein säuberlich getrennt.
So ging Jermyn durch die immer enger werdenden Gassen an dem mächtigen Unterbau des Palastes entlang, bis er zu einer kleinen Türöffnung kam, über der das verwitterte Wappen des edlen Geschlechts nur noch schwach zu erkennen war. Hierher hatten sie ihn auch geschleppt, als er sich vor drei Jahren an Slick versucht hatte.
Bisher war er unbehelligt geblieben. Die Gefolgsleute Fortunagras wussten, dass er auf dem Weg zu ihrem Herrn war und in der Umgebung dieses Palastes wagte keiner der zahlreichen Straßenräuber und Taschendiebe einen Überfall. Für sie war der Ehrenwerte Fortunagra nicht der elegante Edelmann und Ratsherr, sondern der Patron, den sie mehr fürchteten als die Stadtwache.
Jermyn stieg die drei ausgetretenen Stufen hoch und klopfte. Man hatte ihn offenbar erwartet, so rasch öffnete sich die kleine Tür und er fand sich einem sauer dreinblickenden Slick gegenüber.
»Bist ganz schön dreist, den Herrn so lange warten zu lassen«, knurrte er. Jermyn hob die Brauen.
»Ich wüsste nicht, was das seinen Türsteher angeht«, erwiderte er gelangweilt und stieg die schmale Treppe hinauf, die von kleinen Öllampen erhellt wurde. Eine andere Treppe führte in die Tiefe, die in völliger Dunkelheit lag. Von den weiträumigen Kellern sprachen die Bewohner des Viertels nur im Flüsterton.
Slick keuchte hinter Jermyn her, drückte sich wütend an ihm vorbei und klopfte an eine Tür am Ende der Treppe. Auf einen Ruf von innen stieß er sie auf und bedeutete Jermyn mit einer unwirschen Kopfbewegung einzutreten.
Jermyn fand sich in einem kleinen, karg eingerichteten Raum. Aber die Kargheit täuschte, die wenigen Gegenstände waren wertvoll und von exquisitem Geschmack. Auf dem Steinboden lag ein vielfarbig schimmernder
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