AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
mit dem Beutel von dem Scheißer, den ich dir gegeben hab?«, fragte er mürrisch als er das lautstarke Schmatzen nicht länger überhören konnte. Wag schluckte hastig und antwortete hustend:
»Hat der Bader.«
Wenn Jermyn geglaubt hatte, sich mit diesem Almosen freikaufen zu können, so zeigten ihm die nächsten Tage seinen Irrtum. Mit noch größerer Hartnäckigkeit hängte Wag sich an ihn und wenn Jermyn durch die Gassen strich, spürte er seine Anwesenheit stärker als zuvor. Dabei wurde der Anblick des kleinen Mannes immer elender; ein stummer Vorwurf lag in seinem ausgezehrten Gesicht.
Schließlich war Jermyn mit seiner Geduld am Ende.
Wag war ihm bis zu der Absteige gefolgt, in der er Quartier genommen hatte, aber statt hineinzugehen, bog Jermyn in eine schmale Seitengasse ein, als habe er es sich anders überlegt. Als der kleine Mann prompt wie ein Schatten hinter ihm herkam, packte er ihn an seinem dürftigen Wams und schüttelte ihn.
»Oi, du lästige Wanze, du gehst mir auf den Sack! Was schwänzelst du mir nach?«
»A...aber was s...soll ich denn machn?«, stotterte Wag. Er klapperte so mit den Zähnen, dass er kaum sprechen konnte. »Du bis doch mein Patron ...«
»Was?« Jermyn war so verblüfft über die dreiste Antwort, dass er den Mann losließ.
»Dein Patron? Hast du Wundfieber, oder was? Selbst wenn ich einen Gefolgsmann wollte, was soll ich mit einem Wrack wie dir anfangen?«
Wag blinzelte ängstlich.
»Du hast mich doch schon angenommn wie du den Bader un das Essen neulich bezahlt hast. ,Folgst du mir, sorg ich für dich'«, leierte er den uralten Spruch der Gefolgschaft herunter, »du hast doch für mich gesorgt, oder? Na, un jetz folg ich dir.«
Jermyn verschlug es die Sprache. Er starrte die armselige Gestalt an. Die schäbigen Kleider schlotterten um die mageren Glieder, seine Mundwinkel waren eingerissen und er stank wie einer, der sich lange nicht gewaschen hatte. Dennoch ging eine verzweifelte Entschlossenheit von ihm aus und Jermyn ahnte, dass er nur Ruhe von der lästigen Dankbarkeit bekam, wenn er den Mann umbrachte oder seine Erinnerung an den ganzen Vorfall bei Fortunagra auslöschte.
Schon machte er sich bereit, in den fremden Geist einzudringen, als Wag sich aufrichtete und stolz erklärte:
»Du muss nich denken, dass ich dir nix zu bieten hab, so 'nen schlechten Fang machste nu doch nicht mit mir. Ich werd dir nämlich mein Schlupfwinkel zeigen, Patron.«
Er sprach, als erweise er damit eine große Gnade.
»Na, da fühl ich mich aber geehrt«, fuhr Jermyn ihn an, »und ich bin nicht dein Patron!«
Wag nickte bekräftigend.
»Das kannste auch, ich wohn jedenfalls besser als du in dieser Absteige.«
»Aha, und wo soll der wunderbare Palast sein?«
»He, woher weißte, dass es 'n Palast is? Kannste Gedanken lesen? Na komm mit, ich zeig's dir.«
Jermyn hatte nicht vor, Wag über seine Gedankenkräfte aufzuklären. Wer wusste schon, wie langlebig diese Anhänglichkeit war – am Ende zog der kleine Gauner doch Fortunagras Wohlwollen seinem äußerst widerwilligen Schutz vor.
Aber seine Neugier war geweckt, er hatte nichts besseres vor und so folgte er Wag durch die engen Gassen nach Osten, bis die Häuser sich lichteten und sie unversehens vor einem ausgedehnten Brachfeld standen.
Gelbes, vertrocknetes Gras bedeckte den Boden, niedriges Gestrüpp und kleine Bäume mit braunem Laub, das traurig im herbstlichen Wind raschelte. Nur wenige Schritte vor ihnen erhob sich eine große, steinerne Säule, verziert mit einem Fries von Bildern, der sich um den gewaltigen Schaft wand. Die oberen Teile waren herabgestürzt und lagen zerbrochen, von Schlingpflanzen überwuchert, umher. Doch der Stumpf war immer noch beeindruckend, drei Männer hätten seinen Umfang nicht umspannen können. Dahinter erhob sich ein Trümmerfeld, jämmerliche Reste mächtiger Bauwerke, dem Verfall preisgegeben.
Auch in anderen Vierteln Deas gab es diese Überreste alter Gebäude – ein gemeißelter Bogen unter dem sich die Hütten kleiner Handwerker und Händler duckten, hohe Gewölbe, in die Decken und Wände eingezogen worden waren, um schäbige Wohnungen für armes Volk zu schaffen.
Hier aber war das Herz des Alten Reichs gewesen, die Paläste der Kaiser, die Tempel und Regierungshallen, hier hatte es den Todesstoß bekommen und die später Geborenen mieden diesen Ort des sichtbaren Untergangs einstiger Größe. Auch Jermyn kannte das Ruinenfeld, wie jeder in Dea, aber er hatte nie einen Fuß
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