AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
wo er sich aufputzen lässt.«
»Aha, aber ich geh zu keinem Hautstecher nich, das is was für junge Leute«, erklärte der treue Gefolgsmann eilig. Jermyn warf ihm einen hässlichen Blick zu und griff nach der roten Haarsträhne, die ihm schon bis zum Kinn reichte.
»Sollte ja eigentlich 'ne Locke werden«, grinste er, »mal sehen, was die Kunst dafür tun kann.«
Wag sah ihm nach, als er den Treppenstumpf zur Galerie hinauf turnte. Es gab mittlerweile eine Leiter, die sie benutzt hatten, um Kissen, Decken, eine Truhe und einige merkwürdige Gerätschaften hoch zu schaffen. Aber sie war so schwer, dass Wag sie allein nicht bewegen konnte. Nun lag sie hinter dem Pfeiler an der Wand, damit er nicht in Versuchung kam, in den oberen Räumen herumzuschnüffeln, wie Jermyn es wenig zartfühlend ausdrückte.
Er war ein komischer Kauz, der Patron, sinnierte Wag, während er die Reste der Mahlzeit in zwei Tonkrügen verstaute und sie gegen Ungeziefer sorgfältig mit Ölpapier verschloss. Dann kroch er auf sein Lager und holte aus einem Loch in der Mauer eine dickbauchige Flasche. Er nahm einen kräftigen Schluck und schnalzte genießerisch mit den Lippen. Seine Fingerkuppen waren noch empfindlich und taugten nicht für Feinarbeit, aber Flaschen und Fressalien machten ihm keine Schwierigkeiten mehr. Am Anfang war Jermyn von seinen Fingerübungen nicht begeistert gewesen.
»Du bist bescheuert, dich für ein bisschen Brot und Käse schnappen zu lassen. Die paar Kupfermünzen haben wir auch noch übrig.«
»Nee, Patron, die können wir sparn. Un außerdem muss ich üben, damit ich wieder in Form komme.«
Jermyn hatte die Schultern gezuckt. »Mach was du willst, aber denk nicht, dass ich dich raushole, wenn sie dich ins Loch stecken.«
Wag glaubte ihm auf's Wort, aber bisher war alles gut gegangen und Jermyn bediente sich kräftig von allem, was er mitgehen ließ.
Er nahm einen zweiten Schluck und wühlte sich tiefer in seine Lumpen.
Hoffentlich hatte er endlich einmal auf das richtige Pferd gesetzt. Ein kleiner Niemand wie er kam in den dunklen Vierteln von Dea allein nicht zurecht, der Ehrenwerte hätte schon dafür gesorgt, dass er Freiwild gewesen wäre. Wag seufzte.
Das kam von der verdammten Quatscherei. Warum musste er auch den Schnäpper warnen, als das Strafgericht über ihm niedergehen sollte? Nur weil der ihm immer einen guten Preis für seine kleinen Diebereien gemacht hatte? In Dea kämpfte jeder für sich. Er hätte seinen Mund halten sollen, als Fortunagra entdeckt hatte, dass der Hehler nicht den Tribut zahlte, der abgemacht war und ihm seine Schläger auf den Hals geschickt hatte.
Der Schnäpper war rechtzeitig aus der Stadt verschwunden, dafür hatten sie ihn am Schlafitt gekriegt. Kein Finger hatte sich zu seiner Rettung gerührt, als Fortunagras Häscher ihn aus der Kneipe gezerrt hatten. Angst um sein Leben aber hatte er erst bekommen, als sie ihn nicht verprügelten, sondern zwei eleganten jungen Herrn auslieferten. Und die hätten ihn umgebracht – entweder gleich in dem Folterkeller oder weil er sich mit seinen zerfleischten Fingern nicht mehr hätte ernähren können – wäre Jermyn nicht erschienen. Bis heute begriff Wag nicht, wie der Junge mit den beiden Kerlen fertig geworden war. Sie waren – bums – umgefallen, dabei hätte er von einem Kampf doch was merken müssen, auch wenn er vor Angst und Schmerz beinah bekloppt gewesen war.
Aber Jermyn war auch unheimlich. Wenn er einen ansah, konnte einem ganz schwummerig werden. Entweder man versank in den schwarzen Glubschern, wie in den Schlammgruben draußen bei den Abdeckereien, oder sie spießten einen auf. Der Besuch bei Vitalonga neulich – wie ein Dämon hatte der Junge ausgesehen mit seinem Grinsen und den roten Haaren ... Dann diese Kletterei – Wag wurde schon vom Hinsehen schwindelig. Der Schrecken fuhr ihm in die Glieder, wenn Jermyn nur an einer Hand am Fries einer alten Tempelfront baumelte oder mit gespreizten Armen und Beinen wie ein Frosch an einer glatten Palastwand hing, lange, ohne sich zu rühren. Einmal hatte er sich so geängstigt, dass er hinaufgeschrieen hatte: »He, Patron, soll ich schnell die Leiter holen?«
Jermyn war zusammengezuckt und hatte nur den Kopf geschüttelt.
»Lass mich in Ruhe, wenn ich klettere, kapiert?«, hatte er Wag angefahren, als er unten gewesen war. »Ich kann's nicht brauchen, wenn man mich an so 'ner schwierigen Stelle stört.«
»Haste denn keine Angst da oben? Denkste nich
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