AvaNinian – Zweites Buch
sie wie die Kaiserinnen der Alten Zeit als oberste Priesterin der Herdgöttin gelten wollte. Auch Violetta hatte mit ihrer Mutter das elegante kleine Heiligtum besucht und beim Anblick des vertrauten Bildes atmete sie auf. Unter den Augen der würdigen Gottheit würde nichts Gefährliches oder Ungehöriges geschehen ...
Aber der Tempelraum war dunkel, keine Priesterin erschien und die Gesellschaft schritt hastig durch die Andachtshalle. Sie sprachen wenig und die gereizte Spannung übertrug sich auf Violetta. In dem verschwenderisch ausgestatteten Versammlungsraum wurden die vornehmen Damen, die sonst nichts taten, was nicht auch eine Dienerin für sie tun konnte, sehr geschäftig. Vor Violettas überraschten Augen warfen sie Kissen und Decken von zwei Sitzbänken und zerrten die schweren Möbelstücke mit ihren zarten Händen beiseite.
Die Fürstin kauerte sich nieder und machte sich am Boden zu schaffen. Andere Damen kamen ihr zu Hilfe und mit vereinten Kräften hoben sie eine schwere Falltür. Isabeau raffte ihre glänzenden Röcke und stieg in den dunklen Schacht. Margeau folgte ihr leichtfüßig.
»Kommt, Violetta, bleibt hinter mir«, rief sie, es klang mehr ungeduldig als fürsorglich.
Violetta wagte nicht zu widersprechen, obwohl ihr vor dem Loch im Boden grauste. Zitternd tastete sie nach der obersten Stufe und eine Dame nach der anderen verschwand in der Tiefe.
Sie fanden sich in einem Kellerraum mit rohen Ziegelmauern, leer bis auf mehrere große Truhen. Auf einen Wink der Fürstin hoben die Frauen die Deckel und nahmen schwarze Umhänge heraus, die sie über ihre eleganten Roben warfen. Zuletzt holten sie vom Grund der Kästen vier weiße Umhänge, von denen Violetta einen erhielt. Unschlüssig sah sie das Gewand an.
»Na los, zieh es an!«, zischte Margeau und ihr kleines Gesicht verschwand unter der Kapuze.
Die bunte Schar der Damen verwandelte sich in einen Pulk vermummter Gestalten, der wispernd und raschelnd durch endlose Gänge huschte. Violetta lief folgsam mit, sie versuchte zu erraten, wer außer ihr einen weißen Umhang trug, aber sie konnte nur Umrisse erkennen, die Spitze eines Seidenschuhs, ein Kinn unter der Kapuze. Irgendwo liefen die Fürstin, Margeau und die Damen ihres Zirkels, dem anzugehören Violettas sehnlichster Wunsch war.
Sie hatte große Hoffnungen in diese Nacht gesetzt, die so vielversprechend begann, als sie ihr Elternhaus nach Sonnenuntergang voll froher Erwartung verlassen hatte.
Vor drei Tagen hatte die Fürstin sie nach der Kartenpartie sehr liebenswürdig eingeladen, in ihrem Gefolge an den Freien Tänzen teilzunehmen und Violetta hatte über ihrer Freude sogar die herben Verluste vergessen, die sie am Tisch der Fürstin erlitten hatte.
In den letzten beiden Jahren hatte sie neidvoll zugehört, wenn die anderen Damen im Vorzimmer von Isabeaus Schlafgemach kichernd und zwinkernd von den Freuden der Freien Tänze schwärmten. Wie hatte es ihre Neugier angestachelt, wenn sie die Stimmen senkten und mit verschwörerischem Lächeln von dem »was danach kam« flüsterten! Als Tochter eines reichen Kauffahrers verfügte sie über ein größeres Nadelgeld als manche edelgeborene Dame und dennoch hatte sie sich stets wie eine törichte Landpomeranze gefühlt. Zuletzt war sie überzeugt, nur dann in den erlesenen Kreis um die Fürstin Zugang zu finden, wenn sie wenigstens einmal diese Lustbarkeiten teilte.
Ihr Glück hatte daher den Gipfelpunkt erreicht, als Margeau de Valois, die besondere Vertraute der Fürstin, sie am Tag der Tempelschließung aufgesucht hatte. Nach einigen Schmeicheleien über die reiche Einrichtung des Empfangszimmers und Violettas Juwelen war sie vertraulich nähergerückt.
»Liebste, wisst Ihr, dass unsere Herrin große Stücke auf Euch hält? Ein Fräulein von Eurem Geschmack finde man selten, sagte sie noch gestern und erlaubte mir Euch einzuladen.«
»Einladen?«
Margeau rettete elegant das Glas Süßwein, das Violetta in ihrer Aufregung beinahe umgestoßen hätte.
»Ja. Ich biete Euch an, unserer geheimen Schwesternschaft beizutreten. Wir haben uns der Verehrung und dem Dienst der Großen Göttin verschrieben. Nur Damen der ersten Familien gehören ihr an, die Fürstin steht uns als Erste und Vornehmste vor.«
Violetta hatte es kaum fassen können. Das elegante Fräulein de Valois, das sie um seiner spöttischen Blicke und spitzen, geistreichen Reden willen fürchtete, ließ sich zu diesem Botengang herab! Sie hatte ihren Dank gestammelt,
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