AvaNinian – Zweites Buch
sie von sich.
»Rauf da!«, brüllte er. Diesmal fragte sie nicht, wie es ihm ergehen würde - wie von Sinnen stolperte sie auf die rettende Mauer zu, krallte sich hinauf.
Der Hund stutzte, unschlüssig, wen er zuerst angreifen sollte, und dieser kurze Moment reichte Jermyn. Wie Säure ergoss sich der Hass, der sich in dieser Nacht in ihm aufgestaut hatte, in das trübe Bewusstsein. Das Tier überschlug sich im Sprung, schlug hart auf und wand sich fiepend am Boden. Jermyn sah dem Todeskampf nicht zu, er rannte los und warf sich über die Mauer.
Beinahe wäre er auf Ninian gefallen, die zusammengesunken am Boden kauerte und schluchzend nach Atem rang.
»Schon gut, schon gut, ist doch alles vorbei.«
Drüben schrie der Mann mit überschlagenden Stimme nach seinem Hund, aber das Fiepen war verstummt.
»Ninian!«
Angst hüllte sie ein, wie eine klamme, stinkende Wolke, die alle Wärme in ihr erstickte. Ihre Schwäche erschütterte Jermyn, mit Wonne hätte er dem Mann am Fenster das gleiche wie seiner Töle angetan, aber Gebell und Geschrei hatten die Nachbarschaft aufgeweckt, Laden klapperten und an einigen Fenstern wurde es hell. Es war weder die Zeit für Rache noch für Schwäche.
Mit Mühe verbannte er die bösen Gedanken und zog Ninian an sich. Sie zitterte und atmete viel zu schnell. Jermyn öffnete sich und berührte sanft ihren aufgewühlten Geist.
»Alles ist gut, Liebste, alles ist gut. Vergiss die Angst vor Hunden, sie ist verschwunden.«
» Jer...Jermyn?«
Sie war so überrascht, ihn zu spüren, dass er die Furcht leicht aus ihr lösen konnte. Wie eine lockende Landschaft lag ihre Seele vor ihm. Wie immer war die Versuchung, weiterzugehen, zu erfahren, was sie fühlte und dachte, beinahe übermächtig.
Sie schnappte nach Luft und hastig zog er sich zurück. Auch dafür war nicht die rechte Zeit.
»Jermyn, du hast noch nie ...«
»Ja, hab ich nicht und ich mach’s auch nicht wieder«, unterbrach er sie, »aber du darfst jetzt nicht schlappmachen, sie bewachen die Hauseingänge. Wir müssen durch diese verdammten Höfe und da gibt’s noch mehr Köter, aber du fürchtest sie nicht mehr.«
Sie starrte ihn an.
»Du hast recht«, flüsterte sie, »ich habe keine Angst mehr.«
Jermyn grinste schief.
»Einer der kleinen Tricks, die sie mir im Haus der Weisen beigebracht haben - die Ängste einer anderen Seele auf sich zu nehmen. Jetzt muss ich sie nur möglichst schnell wieder abgeben. Los, weiter!«
Es war, wie er gesagt hatte. Immer, wenn sie versuchten, durch die Häuser auf die Gassen zurückzukommen, mussten sie vor den aufgescheuchten Bewohnern den Rückzug antreten. Ihnen blieb nur der Weg über die Mauern von einem Hof in den nächsten und mehr als einmal landeten sie auf dem Rücken eines Hundes, der wütend nach ihren Fersen schnappte. Sie rannten und sprangen, bis ihnen das Herz gegen die Rippen hämmerte und selbst ihre geübten Glieder erlahmten. Die aufgerissenen Fingerkuppen machten jeden Griff zur Qual.
Das Gebell hatte das ganze Viertel in Aufruhr versetzt, jemand läutete in wilder Aufregung die Feuerglocke und vor den Fackeln der erbosten Bewohner floh die Dunkelheit.
»Da, die Gerberhallen!«
Sie hatten sich gerade wieder über eine Mauer gekämpft und Jermyn deutete auf ein hohes, dunkles Gebäude mit flachem Giebel, das sich in geringer Entfernung jenseits des Bretterzauns erhob.
»Wenn wir bis dahin kommen ...«
Er verstummte, kalter Schweiß brach ihm aus und Ninian japste entsetzt nach Luft. Man musste keine besondere Furcht vor Hunden haben, um beim Anblick der drei grauen Bulldoggen zurückzuweichen. Verzweifelt wandten sie sich dem Hintereingang des Hauses zu und sahen zwei Bewaffnete herausspringen, in gelbroter Uniform der eine, in blauroter der andere.
»Verdammte Scheiße.«
Ninian war den Tränen nahe, als sie Jermyns Fluch hörte. Nun war es zu Ende, sie spürte das tiefe Grollen der Bestien im Nacken, während die Wachmänner drohend die Hellebarden senkten. Doch statt anzugreifen, ließen sie die Waffen fallen und stolperten rücklings in den Gang zurück.
Jermyn hatte sie grob aus dem Weg gezerrt und die Hunde, die mit untrüglichem Instinkt die panische Angst der Wachleute spürten, stürzten hinter ihnen her ins Haus, ohne die beiden Gejagten weiter zu beachten.
»Was war? Was hast du mit den Wächtern gemacht?«, keuchte Ninian.
Er lachte schadenfroh. »Ich habe ihnen deine Angst aufgehalst. Weiter, weiter, wenn wir bis zu den Lagerhallen kommen,
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