Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Avni vor den Bücherborden an der Wand und starrte auf die Kartonschuber. Überrascht drehte er sich um, als die Tür aufging. Ofers Ermittlungsakte war in keinem der Schuber. Avraham Avraham hatte sie am Vortag mit nach Hause genommen und am Morgen in die Schublade seines Schreibtischs gelegt.
Der Inspektor schaltete das Tonbandgerät ein und bat Avni, sein Geständnis zu wiederholen.
Welche Vermutung hegte er in dieser Phase der Ermittlungen? Er musste sich beherrschen, dass ihn seine Hoffnungen nicht falsche Schlüsse aus den Informationen, über die er verfügte, ziehen ließen. Doch das war unmöglich nach zweieinhalb Wochen fruchtloser Ermittlungsarbeit mit unzähligen kleinen Niederlagen, dem wachsenden Gefühl, dass ihm die Ermittlung entglitt, und der zunehmenden Sorge um Ofer. Er hätte Avni verhören müssen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen, hätte die Ermittlungen in alle Richtungen offenhalten müssen, doch er glaubte, der Anfang eines Fadens, der zu Ofer führte, wäre gefunden und dass er diesen Anfang in der Hand hielt, und dieses Gefühl war stärker als er.
Hatte Avni Ofer geholfen, sich irgendwo zu verstecken? Das war die erste Möglichkeit. Die zweite war grauenerregender. Er betrachtete den Lehrer, der vor ihm saß, taxierte seine Statur, sah ihm in die Augen. Noch erblickte er darin nichts Endgültiges.
Avraham ließ die Vernehmung verschiedene, abrupt wechselnde Richtungen nehmen, um Avni durcheinanderzubringen und seine Selbstbeherrschung zu erschüttern, und er registrierte, dass Avni zusehends seine Sicherheit verlor und im Begriff war, etwas preiszugeben, das er nicht preisgeben wollte. Avraham stand unmittelbar vor einem Triumph, er musste nur noch den Beweis erbringen, dass Schärfstein und Ilana sich geirrt hatten.
Da erzählte Avni ihm von den Briefen.
Es brauchte einige Zeit, bis die Wirkung eintrat.
Schließlich verließ Avraham erneut den Raum und rief Maalul an. Er fragte ihn, ob er etwas von anonymen Briefen gehört habe, die Ofers Eltern erhalten hätten, als Avraham in Brüssel war.
Aber Maalul wusste von nichts: »Warum fragst du? Was für Briefe denn?«
Doch Avraham Avraham hatte bereits aufgelegt und Schärfsteins Zimmer betreten, ohne vorher angeklopft zu haben. Was sich in seinem Bewusstsein auszubreiten begann, war nicht Erkenntnis, sondern Panik. Er fragte Schärfstein: »Haben Ofers Eltern versucht, mit dir in Kontakt zu treten, während ich in Brüssel war?«
Schärfstein verneinte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, von welchen Briefen Avraham sprach.
Anschließend stand Avraham vor dem Revier und rauchte eine Zigarette. Nach zwei Tagen drückender Hitze war es ein frischer, beinahe kühler Morgen. In einiger Entfernung, am Tor des Technologischen Instituts, sah er eine junge Frau sich umdrehen und weggehen. War das Avnis Frau?
Er war unschlüssig, was er Ilana sagen sollte, aber dann rief er sie an und berichtete.
»Und was schließt du daraus?«, fragte sie, als wollte sie, dass er es für sie ausspräche.
»Dass die Eltern allem Anschein nach die Briefe unterschlagen haben, auch wenn ich nicht weiß, warum. Jedenfalls haben sie uns Informationen vorenthalten.«
»Bist du zu hundert Prozent sicher, dass er ihnen die Briefe in den Kasten gesteckt hat?«
Avraham zögerte, ehe er antwortete: »Ich denke, ja. Warum sollte er so etwas gestehen, wenn es nicht stimmt?«
Eine halbe Stunde später war Ilana bereits auf dem Revier. Sie nahm ihm die Briefe aus der Hand.
Da Avni bei Avraham im Büro saß, drängten sie sich in Schärfsteins von einem Ventilator mehr schlecht als recht belüfteten Raum. Ilana hatte darauf bestanden, ihn an der Entscheidung zu beteiligen.
Auf Ilanas Bitte hin berichtete Avraham kurz von den Begegnungen mit Avni und fasste dann die Gespräche mit ihm zusammen. Die Geständnisse gab er detailliert wieder, schließlich waren sie der Grund, weshalb Avraham Avrahams Verdacht gegen Avni erwacht war. Avraham meinte, der Lehrer mache zwar den Eindruck eines etwas labilen Menschen und seine Aussage müsse auch noch verifiziert werden, dennoch sei er der Ansicht, dass Avni nicht lüge. Sowohl den anonymen Anruf als auch die Briefe habe er schließlich aus eigenem Antrieb gestanden.
Danach sprachen sie über die Eltern.
Schärfstein war gegen Ilanas Vorschlag, sich einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung zu besorgen, um die Briefe zu finden und eventuell weitere Beweise für eine Behinderung der Ermittlungsarbeiten. »Wenn sie die
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