Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
einander im Treppenhaus begegnet.
Der Nachbar stand in einer Gruppe von mehreren Leuten, die sich unterhielten. Alle kannten einander. Seev war unschlüssig, ob er sich bei jemandem anmelden musste. Führte die Polizei eine Liste mit den an der Suche Beteiligten, teilte sie in Gruppen ein, wies ihnen Aufgaben zu, oder konnte er sich einfach so der Suche anschließen, sich nach Gutdünken auf dem Gelände bewegen und suchen? Er trat zu dem Nachbarn, und sie gaben einander die Hand.
»Sind Sie schon lange hier?«, fragte er, und der Nachbar erwiderte: »Eine Stunde, anderthalb vielleicht.«
Sie hatten noch nie mehr als ein paar Worte gewechselt. Der Nachbar, der einen Baustoffhandel betrieb, war einige Jahre älter als er. Er fuhr einen weißen Toyota Corolla und hatte zwei Kinder. Kurz nachdem sie nach Cholon gezogen waren, hatte der Nachbar bei ihnen geklopft und wissen wollen, ob der Motorroller, der auf dem hauseigenen Parkplatz abgestellt war, ihm gehöre. Er hatte Seev gefragt, ob es ihm etwas ausmache, den Roller woanders zu parken, da er den Weg zu den Mülltonnen versperre. Von da an hatte Seev den Motorroller vor dem Haus abgestellt, auf dem Bürgersteig. Jetzt herrschten eine gewisse Scheu und Verlegenheit zwischen ihnen, zugleich aber auch Nähe, ja fast brüderliche Verbundenheit. Er spürte noch immer den trockenen Händedruck des anderen auf der Haut.
»Wo findet die Suche überhaupt statt?«, fragte Seev.
Und der Nachbar antwortete: »Sie haben uns gesagt, hier, im Viertel. Die Polizei durchkämmt die Dünen hinter uns.«
Dort musste dann wohl auch Avraham sein, der am Vorabend im Treppenhaus nicht einmal stehen geblieben war, um ihn zu grüßen oder sich dafür zu entschuldigen, dass er am Donnerstagabend nicht mehr erschienen war, um die Befragung abzuschließen, wie er es angekündigt hatte. Als Seev begriff, dass Avraham ihn nicht erkannt hatte, stieg er weiter die Treppe hinauf und tat so, als hätte er den Mann gar nicht bemerkt, der an ihm vorbei die Stufen hinunterhastete.
»Und wissen wir, was wir suchen sollen?«
»Haben sie nicht gesagt. Sicher verdächtige Gegenstände. Kleidungsstücke, eine Tasche.«
Es gelang ihm nicht, ein inneres Beben zu unterdrücken, aber äußerlich war ihm nichts anzusehen, als er sagte: »Die Frage ist doch, warum ausgerechnet hier. Wissen Sie, ob es konkrete Informationen gibt?«
»Ich hab keine Ahnung«, antwortete der Nachbar. »Die Familie hat darum gebeten.«
In einiger Entfernung standen ein paar Jugendliche, offenbar Klassenkameraden von Ofer. Einer war auf die Knie gegangen und spähte unter die an der Straße parkenden Autos. Seev überlegte, ob wohl auch Lehrer von Ofers Schule da waren.
»Gibt es irgendetwas, das ich tun kann? Vielleicht kann ich mich Ihnen ja anschließen?«, fragte er den Nachbarn.
»Wir warten darauf, dass sie aufschließen«, erklärte der. »Irgendjemand hat den Bauunternehmer angerufen, damit er kommt und uns Zugang zu den Baustellen hier in der Gegend verschafft.«
Er hielt sich an den Nachbarn, bis er sich unbefangen genug fühlte, sich selbst seinen Weg zu suchen. Eigentlich hätte wohl irgendjemand von der Familie die freiwilligen Helfer instruieren müssen, aber Seev sah niemanden. Auch Ofers Mutter sah er nicht. Hatte man es vorgezogen, sie nicht über den Anruf in Kenntnis zu setzen, der bei der Polizei eingegangen war, und über die Entscheidung, die Gegend durchkämmen zu lassen? Generell waren so gut wie keine Frauen anwesend, und er war erleichtert, dass Michal beschlossen hatte, zu Hause zu bleiben.
Nachdem der Bauleiter eingetroffen war, begaben sie sich, sechs oder sieben Männer insgesamt, in das riesige Betongerippe. Sie stiegen gegossene Betonschrägen hinauf, alles roch muffig, nach feuchtem Sand und Stein. Sie stapften über am Boden liegende Eisenstützen und Bruchstücke von Ziegeln. Jemand hinter ihm sagte: »Vorsicht, Leute, wir sind nicht versichert.«
Seevs Schuhe und Hosenaufschläge waren schon ganz staubig.
Er bekam das sechste Stockwerk zugewiesen, neun waren schon errichtet. Der Nachbar nahm sich das fünfte vor, und Seev stieg allein weiter nach oben, ein Stockwerk höher. Am Eingang eines riesigen Labyrinths aus Wänden blieb er stehen.
Wenn der Bau fertig wäre, würde es auf jedem Stockwerk drei Wohnungen geben, noch aber war alles offen, waren die künftigen Wohnungen nur ein zusammenhängender Irrgarten ohne Türen. In den unverputzten Mauern klafften lediglich hohe, breite
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