Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
der Suche zu helfen.«
Wie war es ihm gelungen, ihr nicht davon zu erzählen? Diese Tatsache war es, die ihn fassungslos machte und die er am meisten bedauerte. In den zurückliegenden Wochen hatte er wenigstens zwei Geheimnisse vor ihr verborgen gehalten. Den Workshop und Michael Rosen hatte er nicht einmal vorgehabt zu verschweigen. Er hatte einfach beim ersten Mal nicht davon erzählt, und seither war das Geheimnis derart angewachsen, dass er nun nicht mehr ohne weiteres davon anfangen konnte. Und über das, was in den letzten Tagen geschehen war, konnte er natürlich auch nicht reden. Zumindest nicht, bevor er es selbst verstanden haben würde. Er hatte das Gefühl, als würde er sein gesamtes Sein vor ihr verbergen. Am gestrigen Abend hatte er ihr gesagt, er gehe da- und dorthin, obgleich er genau gewusst hatte, dass er woanders hingehen würde. Und als er zurückgekommen war, vollkommen aufgewühlt, hatte sie bereits geschlafen. Er hatte sich ausgezogen und war ins Bett geschlüpft, und sie hatte sich im Schlaf zu ihm umgedreht und ihm mit geschlossenen Augen einen Kuss gegeben.
»Wann war er hier?«, fragte Seev.
»Vor einer Viertelstunde. Ich war noch gar nicht richtig wach«, sagte Michal. »Ich hatte einen richtig komischen Traum. Hab geträumt, wir seien auf so einem Kreuzfahrtschiff unterwegs nach Istanbul, und plötzlich sehe ich dich nicht mehr, weshalb Ilay und ich dich erst an Deck suchen und dann anfangen, die Kabinen im Bauch des Schiffs abzugehen, und in einer der Kabinen sehe ich plötzlich meine Mutter … Jetzt weiß ich nicht mehr, ob wir dich am Ende finden oder nicht.« Sie umarmte ihn und schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals. Sie erzählte ihm gern von ihren Träumen.
Seev nickte und fragte: »Und wo findet die Suche statt?« Obgleich er gar nicht hätte fragen müssen. Er wusste ja, wo.
Das Gebiet war relativ klein, nicht größer als ein paar Quadratkilometer. Die Polizei hatte es in zwei Abschnitte unterteilt. Der nördliche Teil erstreckte sich zwischen der Golda-Meir im Norden und der Menachem-Begin im Süden. Dieser Abschnitt umfasste die Grundstücke mit bewohnten Häusern, Parkplätzen und Gebäuden, die sich noch im Bau befanden. Der zweite Abschnitt war ein weitläufiges sandiges Gebiet südlich der Menachem-Begin. Dort gab es nichts außer Dünen und nochmals Dünen, niedrige Hügel aus weichem Sand und trockene Sträucher, die sich bis nach Rishon Letzion hinzogen.
Seev kam zu Fuß. Sie hatten einige Zeit gebraucht, um zu entscheiden, dass er allein gehen und Michal mit Ilay zu Hause bleiben würde, und danach hatte er noch ein bisschen Zeit in der Wohnung vertrödelt. Hatte sich andere Sachen und Schuhe angezogen, hatte die Schlüssel des Motorrollers gesucht und dann beschlossen, ihn stehen zu lassen, war unschlüssig gewesen, ob er sein Portemonnaie oder nur ein bisschen Bargeld mitnehmen sollte. Würde ihn jemand nach einem Ausweis fragen?
Er kannte das Viertel nicht, in dem er sich jetzt befand. Nach einigen hundert Metern entdeckte er einen leeren Streifenwagen, der vor einem brauen Baucontainer parkte, dem Verkaufsbüro des Bauträgers Samson Selig, der hier Luxusappartements hochzog. Dann erkannte er schon von weitem bekannte Gesichter, Leute, die in seiner Straße wohnten. Unter anderem den Nachbarn, der am Morgen bei ihnen gewesen war und Michal über die Suchmaßnahmen informiert hatte. Sein Herz schlug wild vor Aufregung. Er beschloss, das schwarze Heft nicht aus der Tasche zu holen. Besser, er behielt alles im Gedächtnis und machte sich erst Notizen, wenn er wieder zu Hause wäre.
So hatte er sich die Suche nach Ofer in der vergangenen Nacht allerdings nicht vorgestellt. War das Verkaufsbüro in eine provisorische Einsatzzentrale umgewandelt worden? Nirgendwo sah er Polizisten in Uniform. Und Avraham war auch nicht da.
Gut möglich, dass es die zufällige Begegnung mit Avraham gestern Nachmittag im Treppenhaus gewesen war, die Seev die Eingebung bescherte. Avi Avraham hatte keine Uniform getragen, und vielleicht musste er ihn auch jetzt unter den Leuten in Zivilkleidung suchen, dachte er. Die Tatsache, dass er den Vornamen des Polizisten kannte, der offenbar mit der Leitung der Ermittlung betraut war, erstaunte ihn, war im Grunde genommen aber nur natürlich und eigentlich trivial. Avraham war am Donnerstagabend in seine Wohnung gekommen und hatte in der Küche seiner Frau und seinem Sohn gegenübergesessen, auf seinem Stuhl. Und am nächsten Tag waren sie
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