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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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umbringt, will ja gerade, dass man ihn findet, so hat man es mir zumindest beigebracht.«
    Ilana richtete ihren Blick auf Avraham Avraham, als wollte sie ihn auffordern, den Fehdehandschuh aufzunehmen, den der junge und »brillante« Kollege, den sie gerade seinem Ermittlerteam angedient hatte, ihm hingeworfen hatte. Er erwiderte: »Tabletten lassen sich in jeder Apotheke kaufen.«
    »Also du behauptest, er hat sich in der Apotheke zwei Packungen Schlaftabletten gekauft, ohne jemandem davon zu erzählen, und ist dann losmarschiert, das Zeug in den Dünen zu schlucken? Das ist unlogisch.«
    Schärfstein sah Ilana an, und sie nickte. »Du gehst also davon aus, Eyal, dass er Opfer einer Straftat wurde?«, fragte sie.
    »Nach meiner Einschätzung hat die Ermittlung noch gar nicht richtig begonnen, weshalb jede Möglichkeit in Frage kommt. Klar ist, dass wir bisher nicht schnell genug agiert haben. Selbst wenn er von zu Hause weggelaufen sein sollte, und ich denke nicht, dass das der Fall ist, dann hat uns jede Nacht, die bisher vergangen ist, von ihm entfernt. Und ich weiß noch immer so gut wie gar nichts über den Vermissten, das ist es, was mich stört. Daher erscheint, aus meiner Sicht, alles möglich. Entführung, Beteiligung an einer Straftat und anschließende Flucht, eben alles. Auch Mord. Es ist einfach nicht plausibel, dass ein Junge von sechzehneinhalb Jahren für fünf ganze Tage von zu Hause wegläuft und mit niemandem auf der Welt Kontakt aufnimmt.«
    Avraham Avraham wusste nicht, warum Schärfsteins Ausführungen eine gallige Wut in ihm auslösten. Schließlich waren das genau die Gedanken, die ihn selbst die ganze Zeit umtrieben. Wie oft hatte er sich in den letzten Tagen exakt dies gesagt: Es kann nicht sein, dass ein Sechzehneinhalbjähriger von zu Hause verschwindet und niemand etwas darüber weiß. Vielleicht regte sich der Widerstand in ihm wegen Schärfsteins apodiktischem Tonfall, mit dem er vermittelte, dass seine Gedanken zwingend richtig sein mussten. Schließlich sagte Avraham Avraham wie zu sich selbst und ohne einen der anderen anzusehen: »Vielleicht hat er ja zu jemandem Kontakt aufgenommen, von dem wir noch nichts wissen.«
    Und Schärfstein erwiderte nachsichtig: »Das ist etwas anderes.«
    Maalul beteiligte sich nicht an der Debatte, bis sich Ilana an ihn wandte. Sie fragte, ob – seiner Erfahrung nach – die Umstände darauf hindeuteten, dass Ofer Sharabi weggelaufen war. Wie immer antwortete Maalul nicht gleich. Er schloss für einen Moment seine braunen Augen, schlug sie dann wieder auf und strich sich mit seinen kurzen Fingern über die Glatze. Wie entschuldigend sah er Avraham Avraham an und sagte schließlich: »Nach dem, was wir bisher gehört haben: nein. Für Ausreißversuche in diesem Alter gibt es in aller Regel im Vorfeld Anzeichen. Fehlzeiten in der Schule oder Schulabbruch, Mitgliedschaft in einer Straßengang, Vorstrafen, Alkoholprobleme oder Drogenkonsum. Die Tatsache, dass der Vermisste keine derartige Vorgeschichte hat, wenn ich es richtig verstanden habe, bestärkt bei mir die Befürchtung, dass ihm etwas zugestoßen ist. Ich sage das mit aller Vorsicht, aber ich teile Eyals Meinung, dass wir schnell handeln müssen und in den nächsten Tagen größtmögliche Anstrengungen in die Ermittlung investieren sollten. Fünf Tage ohne ein Lebenszeichen sind viel zu lang.«
    Ilana setzte ihre Lesebrille ab. In den letzten Wochen hatte Avraham Avraham den Eindruck gewonnen, dass sie die Brille trug, wenn sie auf nichts Konkretes schaute, und sie absetzte, wenn sie etwas genau in Augenschein nehmen wollte. Sie betrachtete die Fotos von Ofer, die vor ihr auf dem Tisch verstreut lagen. Die Zeiger der Wanduhr, die über ihr hing, schritten unerbittlich voran.
    »Ich freue mich, dass ihr unterschiedliche Bauchgefühle habt«, sagte Ilana dann. »Das kann durchaus hilfreich für die Ermittlung sein. Aber ich möchte euch bitten, dass wir nicht blind losstürmen mit unseren Bauchgefühlen und uns auf eine Theorie versteifen, schließlich ist uns allen ja klar, dass wir im Moment wirklich noch gar nichts haben. Wir befinden uns in einer sehr frühen Phase des Sammelns von Material und Aussagen, und in dieser Phase verbietet es sich, mit einer feststehenden Folgerung zu kommen, denn sonst kann es passieren, dass wir Details übersehen und andere zu groß sehen. Ich weiß, dass Ungewissheit für uns alle schwer erträglich ist, aber wir müssen sie aushalten und versuchen, auch sie zu

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