Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Karatelehrer?«
»Ja, warum nicht? Außerdem unterrichtet er am theologischen Seminar in Liège. Er ist ein besonderer Mensch. Es würde dir gefallen, dich mit ihm zu unterhalten.«
»Er unterrichtet am theologischen Seminar – heißt das, er ist Priester?«
Jetzt lachte sie. »Er kann kein Priester sein. Soweit ich weiß, ist er verheiratet und hat zwei Kinder. Er hat immer davon geträumt, Priester zu werden, aber dann hat er meine Mutter kennengelernt, und seine Pläne haben sich geändert.«
»Und du kannst auch Karate?«
»Na klar. Er hat mich von klein auf trainiert.«
Wenn sie lächelte, hatte Marianka das Gesicht eines Kindes. Voller Freude.
»Und war es schwer für dich, als du hergekommen bist?«, fragte er weiter.
»Nein. Warum sollte es schwer für mich gewesen sein?«
»Weil du ein Zuhause und Freunde in Slowenien zurückgelassen hast.«
»Überhaupt nicht. Mein Zuhause ist hier. Wir fahren alle paar Jahre im Sommer in meine Geburtsstadt, aber dann will ich immer nur zurück nach Brüssel. Mit dort verbindet mich nichts mehr.«
Avraham wollte wissen, ob sie aus Ljubljana sei, der einzigen Stadt in Slowenien, deren Namen er kannte, und sie antwortete, sie sei in Koper geboren und aufgewachsen, einer Hafenstadt an der Adria.
Das war ein Zeichen.
»Unglaublich«, sagte er. »Jetzt weiß ich, wo Koper liegt.«
»Warum? Was verbindet dich mit Koper?«
Ein sechzehneinhalbjähriger Junge, wollte er sagen. Dann erzählte er ihr von Ofer, der eines Morgens von zu Hause aufgebrochen war, um zur Schule zu gehen, dort nie angekommen war und seither als vermisst galt. Von dessen Vater, mit dem er gesprochen hatte, nachdem der von einer Schiffspassage nach Hause zurückgekehrt war. Und dass der Vater in dem Gespräch die Stadt Koper erwähnt hatte und dieser Name für Avraham das erste Anzeichen dafür gewesen war, dass sich das Bild mit Details zu füllen begann. Seitdem war nicht viel passiert – bis vorgestern Ofers Rucksack gefunden wurde.
Die Viertelstunde, die Marianka ihnen zugestanden hatte, war schon lange vorüber. Sie bestellte ihnen beiden noch einen Kaffee und sagte dann: »Ich nehme an, in Koper wirst du ihn nicht finden. Dort gibt es jede Menge Touristen.«
»Wie ist die Stadt?«, fragte er.
»Ein Provinzstädtchen, ganz schön. Aus meiner Kindheit erinnere ich mich ehrlich gesagt vor allem an den Hafen. Papa und ich sind am Sonntagmorgen immer zum Hafen gegangen, mit den Hunden.«
Drei Stunden später hatten sie bereits alles gesehen, was man in Brüssel gesehen haben musste: die Brunnenfigur des urinierenden Knaben, der auf den holländischen Besatzer pinkelte; den Mont des Arts mit den königlichen Schlossanlagen, die jetzt als Museen genutzt wurden; die riesige Statue von König Albert I., hoch zu Ross, und gegenüber die seiner Frau Elisabeth, die sich von den beiden Straßenseiten aus auf ewig in die Augen blickten. Marianka präsentierte ihm voller Stolz Brüssel, als wäre es ihre Stadt. Vielleicht war sie das ja wirklich.
Immer wieder bat Avraham Marianka, eine Pause zu machen. Aber sie verzichteten sogar auf das Mittagessen und aßen eine belgische Waffel im Stehen. Dennoch verrann die Zeit unaufhörlich. Es blieben keine zwei Stunden mehr, bis er zum Flughafen musste.
Marianka hatte die Tour so geplant, dass sie in der Nähe des Hotels enden sollte. Schließlich saßen sie auf einer Bank auf einem kleinen, von alten, prachtvollen Häusern umstandenen Platz. Vor ihnen erhob sich ein düsteres, quadratisches Gebäude, das wie ein Schiff auf Avraham wirkte. Er behauptete, keinen Schritt mehr gehen zu können. Der finstere Bau war Mariankas Kirche, und jetzt erst fand Avraham heraus, dass sie nicht weit von seinem Hotel entfernt wohnte. Sie teilte sich eine kleine Wohnung mit einer Mitbewohnerin, die im Außenministerium arbeitete.
»Bist du gern bei der Polizei?«, fragte er.
Wieder zeigte sich ihr Kindergesicht. »Überhaupt nicht. Ich habe nie gedacht, dass ich Polizistin werden würde.«
»Und was wolltest du werden?«
»Tänzerin. Als kleines Mädchen. Später wollte ich Ärztin werden. Bei der Polizei bin ich zufällig gelandet.«
»Wie landet man zufällig bei der Polizei?«
»Durch eine Zeitungsannonce. Wie bei jedem anderen Job eben. Mein Vater hat sie gesehen und hat gemeint, das wäre etwas für mich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich noch lange Polizistin sein werde.« Gijom erwähnte sie nicht.
»Und was wirst du sein?«
»Vielleicht Sportlehrerin.
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