Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
tun.«
»Hast du eine andere Theorie, die erklärt, warum es uns nicht gelingt zu rekonstruieren, was am Mittwoch passiert ist?«, fragte Schärfstein vorsichtig.
Vielleicht war es gerade diese Behutsamkeit, die Avraham explodieren ließ: »Ich habe keine Theorie, und ich suche nicht nach Theorien. Ich habe die Aussagen der Eltern von Ofer aufgenommen und weiß, was sie gesagt haben. Du bist doch derjenige, der mit Theorien arbeitet, oder? Und ist das etwa der Punkt, dass du jetzt endgültig von der Theorie des Sexualstraftäters aus der Gegend abgekommen bist und deshalb beschlossen hast, es mal mit seinen Eltern zu versuchen?«
Schärfstein antwortete nicht. Aber Ilana mahnte: »Avi, hör auf damit. Es geht hier nicht um etwas Persönliches und auch nicht um persönliche Kritik. Ich bitte darum, dass wir wieder sachlich und nüchtern über die Ermittlung nachdenken.«
Abermals herrschte Schweigen.
Avraham konnte Ilana nicht sagen, dass er gerne aus dem Fall aussteigen würde, denn ohne ihn würden sie die Ermittlung gegen Rafael und Hannah Sharabi richten. Und er wollte verhindern, dass irgendjemand außer ihm selbst sie noch einmal vernahm.
Ilanas Mobiltelefon klingelte. Sie sprach beinahe flüsternd und bedeckte mit der Hand den Mund beim Sprechen. Maalul nutzte die Unterbrechung, um das Thema zu wechseln, und Schärfstein tat, als amüsierte ihn etwas, wirkte jedoch, als würde er die Kränkung so schnell nicht verzeihen, und tippte auf seinem Handy herum.
»Also raus damit, was hast du in Brüssel getrieben?«, fragte Maalul.
»Ganz ehrlich: nichts«, erwiderte Avraham.
»Und wie ist die Einheit?«
»Ziemlich professionell. Aber Genaues kann ich nicht sagen. Die Fortbildung ist geplatzt, weil die Division Centrale rund um die Uhr an einem Mordfall gearbeitet hat. Sie standen unter ziemlichem Druck, und ich hatte den Eindruck, dass sie sehr gute Arbeit geleistet haben, denn kurz vor meiner Abreise wurde bereits ein Verdächtiger verhaftet, allem Anschein nach der Mörder.«
Ilana bat um Entschuldigung und verließ den Raum, um weiter zu telefonieren. Maalul interessierte sich für den Fall in Brüssel, und Avraham Avraham erzählte ihm, was er wusste. Zu Beginn der Woche, kurz nachdem die Leiche von Johanna Getz auf einem Kartoffelacker am Rand von Brüssel gefunden worden war, hatte man ihren Lebensgefährten festgenommen und die Verhaftung über die Medien verbreitet. Das Ganze war eine Finte gewesen, denn ihr Lebensgefährte hatte ein wasserdichtes Alibi. An dem Wochenende, an dem sie verschwunden war, hatte er sich bei seiner Familie in Antwerpen aufgehalten. Die Polizei hoffte, die Verhaftung und die Berichterstattung in den Medien würden den tatsächlichen Mörder unvorsichtig werden lassen. Zwei Tage danach war der Lebensgefährte freigekommen und an seiner Stelle der Eigentümer von Johanna Getz’ Wohnung verhaftet worden. Er wohnte im selben Haus im dritten Stock. Ein merkwürdiger Typ, pensionierter Schulleiter mit brennenden Augen und wilder Albert-Einstein-Frisur.
Ohne Französisch zu verstehen, verstand Avraham beim Blättern durch die Zeitungen, dass ehemalige Schüler und Kollegen offenbar bereitwillig pikante Informationen über die Schrulligkeit des Schulleiters und dessen sonderbare Angewohnheiten beigesteuert hatten. Avraham wusste nicht, ob auch diese Verhaftung nur ein Ermittlungstrick war. In den Besprechungsräumen der Division Centrale hatte er Dutzende, aus unterschiedlichen Zeiträumen datierende Grundrisse des um die Jahrhundertwende erbauten Hauses gesehen und nahm an, die Polizei suchte nach Nebeneingängen, vielleicht sogar nach Ausgängen, die im Laufe der Jahre zugemauert worden waren, da man wohl davon ausging, dass der oder die Angreifer Johanna nicht durch den Haupteingang aus dem Haus geschafft hatten. Der Schulleiter saß bis Samstagmorgen in Untersuchungshaft, dann wurde ein anderer Nachbar verhaftet, ein Holländer, Mitte dreißig und arbeitslos, der einige Jahre zuvor nach Brüssel übergesiedelt war. Er war allem Anschein nach der Mörder. Jean-Marc hatte ihn bei ihrem letzten Telefonat als Psychopathen bezeichnet.
Ilana kam entspannt und lächelnd ins Zimmer zurück. Sie fragte: »Was, habe ich die Geschichte etwa verpasst?«
Und Maalul wollte wissen: »Aber wie sind sie auf ihn gekommen?«
»Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht«, gab Avraham zu. »Möglicherweise über ihren Strumpf.«
»Welchen Strumpf?«
»An der Leiche fehlte ein Strumpf. Ein
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