Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
warten.
Polizisten, die er nicht kannte, kamen ins Zimmer und gingen wieder, ohne ein Wort zu sagen. Um sicherzustellen, dass er noch da war? Dass er nichts tat, was ihm untersagt war? Vielleicht schauten sie auch nur herein, um einen Blick auf ihn zu werfen wie auf ein seltenes Tier, das man gefangen und in einen Käfig gesperrt hatte? Sein Plan war vollkommen durcheinandergeraten. Und er verstand auch Avrahams Verhalten nicht mehr. Ausgerechnet an dem Punkt, an dem die Vernehmung hätte beginnen sollen, war sie beendet?
Schließlich klopfte es an der Tür, und eine junge Polizistin betrat den Verhörraum mit einer Styroporbox in der Hand, in der sein Mittagessen war. Braten, Kartoffelpüree und Erbsen, dazu gab es eine Flasche Mineralwasser. Das Wasser trank er in einem Zug aus. Das Essen rührte er nicht an.
Avraham kam herein, begleitet von einer Polizeibeamtin, die sich als leitende Offizierin des Ermittlungsdezernats vorstellte. Sie fragte, ob sie ihn beim Essen stören dürften, und er deutete auf die noch unangetastete Mahlzeit. Sie legten ihm einen Kalender vor und verlangten, er solle sich an die genauen Daten erinnern, an denen er die Briefe in den Kasten von Rafael und Hannah Sharabi gesteckt hatte. Er fragte sich, ob die hochrangige Polizeioffizierin die Briefe ebenfalls gelesen hatte. Ihr Haar war braun und lang und etwas zu lockig für seinen Geschmack. Ihre Augen waren leuchtend blau.
In einem Ton, der ihn aufbrachte, als spräche sie zu einem Kind, sagte sie: »Die Briefe, die Sie geschrieben haben, stellen einen schweren Straftatbestand dar, ich bin sicher, das wissen Sie. Aber im Augenblick wollen wir nur wissen, was mit Ofer geschehen ist. Das ist das Einzige, was uns im Moment interessiert. Ich werde Sie daher jetzt fragen, ob Sie wissen, was Ofer widerfahren ist, und ich möchte eine ehrliche Antwort von Ihnen. Sie wissen, dass wir alles, was Sie hier sagen, mithilfe eines Lügendetektors überprüfen werden, es ist also sinnlos zu lügen. Sagen Sie mir jetzt, ob Sie wissen, was mit Ofer geschehen ist und wo er sich befindet.«
Er war zu müde und zu verletzt, um mit einer Ermittlerin zu sprechen, die er nicht kannte, und blieb bei der Version, die er Avraham anvertraut hatte.
»Ich habe schon vorhin gesagt, ich weiß nicht, was mit Ofer passiert ist, und mit seinem Verschwinden habe ich nichts zu tun. Ich wünschte, ich wüsste, wo er ist. Würde ich in irgendeiner Weise mit seinem Verschwinden in Verbindung stehen, wäre ich wohl kaum aus eigenem Antrieb hergekommen, um von den Briefen und dem Telefonanruf zu erzählen. Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen und um Ihre Ermittlungen nicht zu behindern, obwohl ich das vielleicht schon getan habe.«
»Und warum haben Sie dann geschrieben, dass Sie wissen, was Ofer geschehen ist?«, fragte sie.
Seev versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, als er erwiderte: »Das habe ich nicht geschrieben. Ich weiß nicht, ob Sie die Briefe gelesen haben. Wenn Sie sie lesen, werden Sie feststellen, dass sie sozusagen von Ofer geschrieben wurden, aus seiner Perspektive, durch seine Person. Und wenn Sie aufmerksam lesen, werden Sie sehen, dass sich darin kein Hinweis darauf findet, was ihm widerfahren ist, weil ich ja nicht weiß, was passiert ist.«
»Warum haben Sie die Briefe dann geschrieben?«, fuhr ihn Avraham an.
»Ich wollte es Ihnen ja erzählen, aber ich bin nicht dazu gekommen, weil Sie das Gespräch abgebrochen haben«, antwortete Seev leise. »Ich weiß, es war ein Fehler, die Briefe in den Briefkasten zu stecken, aber sie zu schreiben war aus meiner Sicht Teil eines Romans. So habe ich sie gesehen, und ich nehme in Kauf, dass Ihnen das schamlos erscheint. Ich wollte ein Buch schreiben, das aus den Briefen eines vermissten Jungen an seine Eltern besteht. Aber ich habe keine Ahnung, was Ofer widerfahren ist, und ich bin bereit, meine Aussage an einem Lügendetektor zu wiederholen, wann immer Sie wollen.«
So hatte er Avraham nicht an seiner Geschichte teilhaben lassen wollen; an der Art und Weise, wie die Briefe entstanden waren, an ihrer Bedeutung.
Die Ermittlerin bedachte ihn mit einem verachtungsvollen Blick, vielleicht lag sogar Hass darin. Es war einfach lächerlich, dass sie das Schreiben der Briefe als einen schwerwiegenden Straftatbestand bezeichnet hatte.
Sie verließen den Raum.
Mit einem weißen Plastiklöffel kostete Seev von dem Püree und aß so gut wie alle Erbsen auf.
Nach Mittag wurde ein paar Mal an die
Weitere Kostenlose Bücher