Axis
zu Ende vorlesen. Die Heimanlage hatte immerhin eine weibliche Stimme und konnte sogar ein wenig, wenn auch nicht überzeugend, modulieren.
Versteh mich bitte nicht falsch, Lise. Ich mache mir einfach Sorgen um dich, wie es Mütter nun mal tun. Ich muss immer daran denken, dass du ganz allein in dieser Stadt bist…
Ganz allein. Ja. Man konnte sich darauf verlassen, dass ihre Mutter den wunden Punkt treffen würde. Allein – weil es so schwer war, anderen Leuten begreiflich zu machen, was sie hier wollte, warum es ihr so wichtig war.
… und dich in Gefahr bringst…
Eine Gefahr, die um so realer erschien, wenn man, wie gesagt, allein war.
… wo du doch hier zu Hause sein könntest, in Sicherheit. Oder bei Brian, der…
Der die gleiche verständnislose, demonstrativ tolerante Herablassung an den Tag legen würde, die aus den Worten ihrer Mutter sprach.
… mir sicherlich zustimmen würde…
Ohne Zweifel.
… dass es keinen Sinn hat, die Vergangenheit aufzuwühlen.
Was aber, wenn ihr ganz einfach der Mut – oder die innere Abgestumpftheit fehlte, diese Vergangenheit hinter sich zu lassen? Was, wenn sie keine andere Wahl hatte, als ihr nachzugehen, bis sie ihre letzte Dividende in Form von Schmerz oder Befriedigung ausgeschüttet hatte?
»Pause«, sagte sie laut. Mehr als häppchenweise konnte sie das nicht ertragen. Nicht bei all dem, was sonst noch geschah. Nicht, nachdem gerade ein fremdartiger Staub vom Himmel gekommen war. Nicht, während sie vom MfGS beschattet und womöglich abgehört wurde, aus Gründen, die nicht einmal Brian erläutern wollte. Nicht, wenn sie – ja, danke, Mutter, dass du mich daran erinnert hast – allein war.
Sie ging die übrigen eingegangenen Nachrichten durch. Durchweg Werbemüll – mit einer Ausnahme, die sich als Volltreffer erwies. Eine Mitteilung mit Anhang, zugeschickt von einem gewissen Scott Cleland, mit dem sie seit Monaten Verbindung aufzunehmen versuchte. Cleland war der einzige frühere Kollege ihres Vaters, mit dem sie noch nicht hatte sprechen können. Er war Astronom und für das Geophysikalische Institut am Observatorium auf dem Mt. Mahdi tätig. Sie hatte ihn eigentlich schon abgeschrieben, doch hier war endlich eine Antwort auf ihre Post, und sogar eine freundliche. Das Interface las sie ihr vor, mit männlicher Stimme, in Übereinstimmung mit dem angegebenen Namen.
Liebe Lise Adams: Es tut mir leid, dass ich mit so großer Verspätung auf Ihre Anfrage reagiere. Der Grund dafür liegt nicht nur in einem gewissen Zögern meinerseits, es bedurfte auch einigen Suchens, um das beigefügte Dokument zu finden, das Sie möglicherweise interessieren wird. Ich stand Dr. Adams nicht sehr nahe, aber wir haben die Arbeit des jeweils anderen sehr geschätzt. Was die Einzelheiten seines Lebens zu der betreffenden Zeit betrifft, so kann ich Ihnen, ebenso wie bei den anderen Fragen, die Sie mir gestellt haben, leider nicht weiterhelfen. Unsere Verbindung war rein beruflich. Zur Zeit seines Verschwindens hatte er jedoch, wie Sie vermutlich wissen, an einem Buch zu arbeiten begonnen, das den Titel »Planet als Artefakt« tragen sollte. Er bat mich, die kurze Einleitung, die er dafür geschrieben hatte, zu lesen, und das habe ich getan. Ich fand jedoch keine Fehler darin und konnte auch keine wesentlichen Verbesserungen vorschlagen (abgesehen von einem eingängigeren Titel). Für den Fall, dass sich keine Kopie davon in seinen Unterlagen befand, füge ich die bei, die er mir geschickt hat. Robert Adams’ Verschwinden war ein großer Verlust für uns alle an der Universität. Er hat oft mit Liebe von seiner Familie gesprochen, und ich hoffe sehr, dass Sie ein wenig Trost aus Ihren Recherchen werden gewinnen können.
Lise ließ sich das angehängte Dokument ausdrucken. Tatsächlich hatte ihr Vater keine Kopie der Einleitung bei seinen Unterlagen hinterlassen – oder falls doch, hatte ihre Mutter sie vernichtet. Susan Adams hatte alle Papiere ihres Mannes geschreddert und seine Bücher der Universität überlassen. Teil der rituellen Reinigung des Adam’schen Haushaltes.
Sie schaltete das Telefon ab, goss sich ein Glas Wein ein und setzte sich mit den sechs Seiten ausgedruckten Text hinaus auf den Balkon. Der Abend war warm, sie hatte die Asche weggefegt, und die Innenbeleuchtung warf ausreichend Licht nach draußen, sodass sie lesen konnte.
Nach kurzer Zeit holte sie sich einen Kugelschreiber aus der Wohnung und begann, bestimmte Sätze zu unterstreichen.
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