Axis
war es nie »unser Haus«, nicht einmal, wenn sie sich mit Freundinnen aus der amerikanischen Schule unterhielt. Es war »dort, wo wir wohnen«, die von ihrer Mutter bevorzugte Formulierung. Mit ihren dreizehn Jahren hatte Lise sich ein wenig gefürchtet vor all den fremden Orten, die sie im Fernsehen gesehen hatte, und Port Magellan war wie all diese fremden Orte zusammengenommen. In der ersten Zeit hatte sie sich nach Kalifornien zurückgesehnt.
Jetzt sehnte sie sich – ja, wonach?
Nach Wahrheit. Erinnerung. Das Herausfiltern der Wahrheit aus der Erinnerung.
Sie sah sich auf dieser Veranda sitzen, mit ihrem Vater… Ja, wie gern hätte sie jetzt mit ihm dort gesessen, nicht um über Brian oder ihre Probleme zu reden, sondern um über den Ascheregen zu spekulieren, über das, was Robert Adams immer mit einem Lächeln als die Sehr Großen Themen bezeichnet hatte, die Geheimnisse, die jenseits dessen lagen, worüber man sich normalerweise unterhielt.
Es war dunkel, als sie schließlich nach Hause kam. Die Wohnung war noch in Unordnung, das Geschirr nicht gespült, das Bett nicht gemacht, ein wenig von Turks Aura hing noch in der Luft. Sie goss sich ein Glas Rotwein ein und versuchte über das nachzudenken, was Brian gesagt hatte. Über jene mächtigen, einflussreichen Leute und ihrem Interesse an der Frau, die ihren Vater – vielleicht – verführt hatte, seine Familie zu verlassen.
Hatte er recht mit seiner Mahnung, sie solle ihre Zelte hier abbrechen? Gab es wirklich noch irgendwelche Erkenntnisse, die sie aus den Bruchstücken des Lebens ihres Vaters gewinnen konnte?
Oder war sie womöglich einer Wahrheit auf die Spur gekommen, ohne es selbst zu ahnen, und geriet jetzt aus diesem Grund in Schwierigkeiten?
Turk kam zu dem Schluss, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, denn Tomas ging auch beim zweiten und dritten Mal nicht ans Telefon, als er ihn vom Auto aus zu erreichen versuchte. Vielleicht hatte er ja getrunken – er trank noch immer, wenn auch selten exzessiv –, aber selbst in betrunkenem Zustand ging Tomas normalerweise immer ans Telefon.
Also bugsierte Turk sein Auto mit einiger Besorgnis durch die staubverstopften Straßen der Fiats. Tomas war zwar ein Vierter, aber keineswegs unsterblich. Auch Vierte wurden irgendwann einmal alt. Vielleicht war er krank. Oder anderweitig in Schwierigkeiten. Von Zeit zu Zeit passierten unerfreuliche Dinge in den Fiats. Ein paar Philippino-Gangs hatten hier ihre Basis, und es gab eine ganze Reihe von Drogenhäusern.
Turk parkte neben einer Bodega, aus der mächtig Lärm drang, und ging die letzten Meter bis zur Ecke von Tomas’ Schlammstraße zu Fuß. Die Sonne war gerade erst untergegangen, etliche Leute waren noch unterwegs, aus jeder zweiten Behausung schallte Musik. Die Fenster von Tomas’ Wohnwagen jedoch waren dunkel. Womöglich schlief sein Freund schon. Nein – die Tür stand einen Spalt weit offen.
Turk klopfte, bevor er eintrat, obwohl er sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass das eine völlig sinnlose Geste war. Keine Antwort. Er langte nach links, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und blinzelte. Das Zimmer stand kopf. Der Tisch neben dem Sessel war umgeworfen, die Lampe lag in Scherben auf dem Fußboden. Die Luft roch nach abgestandenem Männerschweiß. Zur Sicherheit kontrollierte Turk noch das Schlafzimmer, aber auch hier keine Spur von Tomas.
Er dachte kurz nach, dann ging er zum Wohnwagen nebenan und klopfte. Eine fettleibige Frau in grauem Kittel kam an die Tür: Mrs. Goudy, seit Kurzem verwitwet. Tomas hatte sie Turk irgendwann einmal vorgestellt, so wusste er, dass sie ab und an ein Gläschen zusammen tranken. Nein, Mrs. Goudy hatte in letzter Zeit nichts von Tomas gehört, aber ihr war ein weißer Transporter aufgefallen, der vor seinem Wohnwagen parkte. War irgendwas nicht in Ordnung?
»Das will ich nicht hoffen. Wann genau haben Sie diesen Transporter gesehen, Mrs. Goudy?«
»Vor einer Stunde, vielleicht zwei.«
»Danke, Mrs. Goudy. Ich würde mir keine Sorgen machen. Wäre aber vielleicht besser, die Tür immer gut abzuschließen.«
»Was Sie nicht sagen.«
Turk ging zurück zu Tomas’ Wohnwagen und sperrte ab. Wind war aufgekommen, die behelfsmäßige Straßenlaterne, die an der Ecke hing, schaukelte heftig, Schatten zuckten hin und her.
Er zog das Telefon aus der Tasche und rief Lise an, inständig hoffend, dass sie rangehen würde.
In ihrer Wohnung ließ Lise sich vom Heiminterface den Brief ihrer Mutter
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