Ayesha - Sie kehrt zurück
Zweige, und die schwere Tür brach aus ihren Angeln.
Wir waren in dem von mehreren Lampen erleuchteten Saal, und dies ist, was wir dort sahen: Auf einem Stuhl, gefesselt, blaß, und dennoch mit einem stolzen, trotzigen Ausdruck im Gesicht, saß Leo. Über ihn gebeugt, einen Dolch in seiner knochigen Krallenhand – ja, erhoben und bereit zum Stoß – stand der alte Schamane. Und auf dem Boden lag, mit offenen, zur Decke gerichteten Augen und majestätisch im Tod, Atene, die Khania von Kaloon.
Ayesha hob den rechten Arm, und das Messer fiel aus Simbris Hand und klirrte auf den Marmorboden; er selbst, der es umklammert hatte, stand reglos, als wenn er plötzlich zu Stein geworden wäre.
Ayesha bückte sich, nahm den Dolch auf und zertrennte mit raschen Schnitten Leos Fesseln. Dann, erst dann, sank sie, wie von Schwäche übermannt, auf eine Bank und starrte schweigend zu Boden. Leo stand auf, blickte verwundert umher und sagte mit belegter Stimme, wie einer, der von zu vielen Leiden geschwächt ist: »Gerade noch rechtzeitig, Ayesha. Eine Sekunde später, und dieser mordgierige Hund ...« Er deutete auf den Schamanen. »Doch du warst ja noch rechtzeitig hier. – Wie ist die Schlacht verlaufen, und wie bist du durch diesen furchtbaren Orkan gekommen? Und – oh, Horace – ich danke Gott, daß sie dich nicht getötet haben, wie ich befürchtet hatte.«
»Die Schlacht ist für einige schlecht ausgegangen«, sagte Ayesha, »und ich bin nicht durch den Orkan gekommen, sondern auf seinen Flügeln geritten. Sag mir, was ist geschehen, seit wir uns trennten?«
»In die Falle gelockt, überwältigt, hierher gebracht; man hat mir befohlen, an dich zu schreiben, daß du deinen Vormarsch aufhieltest – habe ich natürlich abgelehnt – und dann ...« Er warf einen Blick auf die Tote, die auf dem Boden lag.
»Und dann was?« fragte Ayesha.
»Dann brach der furchtbare Orkan los, der mich fast zum Wahnsinn gebracht hat. Oh – wenn du gehört hättest, wie der Sturm um diesen Turm heulte und Steine von den Zinnen riß, als ob sie welke Blätter wären; wenn du die Blitze gesehen hättest, die so dicht wie Regentropfen vom Himmel fielen ...«
»Sie waren meine Boten«, sagte Ayesha ruhig. »Ich habe sie ausgesandt, um dich zu retten.«
Leo starrte sie an, ohne ein Wort, doch nach einer Pause, nachdem er über die Angelegenheit nachgedacht zu haben schien, fuhr er fort: »Atene hat das auch gesagt, doch ich habe ihr nicht geglaubt. Ich dachte, das Ende der Welt sei gekommen – das war alles. Sie ist gerade eben zurückgekehrt, noch mehr voller Wut, als ich es war, und sie sagte mir, daß ihr Volk vernichtet sei, und daß sie nicht gegen die Kräfte der Hölle kämpfen könne, daß sie aber mich zur Hölle schicken würde. Und sie hob einen Dolch, um mich zu töten.
›Töte mich nur‹, sagte ich, ›denn ich wußte von Anbeginn, daß du mir überallhin folgen würdest, wohin ich auch gehen mochte‹, und daß ich schwach von dem Blutverlust durch eine Wunde, die ich im Kampf erhalten hatte, und der ganzen Sache müde sei. Also schloß ich die Augen und wartete darauf, daß sie zustechen würde. Doch statt dessen fühlte ich, wie sie ihre Lippen auf meine Stirn drückte, und hörte sie sagen: ›Nein, ich werde es nicht tun. Lebe wohl; erfülle du dein eigenes Geschick, wie ich das meine erfülle. Denn bei diesem Wurf sind die Würfel gegen mich gefallen; doch beim nächsten Mal wird es vielleicht anders ausgehen. Ich will jetzt versuchen, die Würfel mit Blei zu beschweren.‹
Ich öffnete die Augen. Dort stand Atene, hoch aufgerichtet, ein Glas in ihrer Hand – sieh, es liegt neben ihr.
›Geschlagen werde ich doch siegen!‹ rief sie, ›denn ich gehe nur vor dir, um dir den Weg zu bereiten, den du dann gehen sollst. Bis zum Wiedersehen, rufe ich dir zu. Denn ich bin verloren. Ayeshas Reiter sind in der Stadt, und an ihrer Spitze reitet die Rachegöttin selbst.‹
Sie leerte das Glas und fiel tot zu Boden. Doch sieh, ihre Brust bebt noch. Kurz darauf wollte der alte Mann, ihr Onkel, mich ermorden, denn da ich gefesselt war, konnte ich mich nicht wehren. Doch dann wurde die Tür aus ihrem Rahmen gesprengt, und du tratest herein. Verschone ihn, er ist von ihrem Blut, und er hat sie geliebt.«
Leo ließ sich auf den Stuhl fallen, auf den er gefesselt gewesen war, und schien in eine Art Starre zu versinken, denn sein Gesicht war plötzlich wie das Gesicht eines alten Mannes.
»Du bist krank«, sagte Ayesha besorgt.
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