Ayesha - Sie kehrt zurück
gelbgesichtige Diener weigerte sich, sie zu überbringen, und Simbri erklärte mir nur kühl, daß er nichts mit Geschriebenem zu tun haben wolle, das er nicht lesen könne. Dann, in der dritten Nacht, faßte ich den Entschluß, daß ich ihn, ungeachtet des Risikos, suchen würde.
Ich war wieder gut bei Kräften, fast völlig erholt. Gegen Mitternacht, als der Mond aufgegangen war – denn ich hatte kein anderes Licht – kroch ich aus dem Bett, zog mich an, nahm ein Messer – es war die einzige Waffe, die ich besaß – und öffnete die Tür.
Als man mich aus dem Raum getragen hatte, in dem Leo und ich anfangs zusammen untergebracht gewesen waren, hatte ich mir den Weg gemerkt. Zuerst, von meinem Schlafraum aus gesehen, kam ein etwa dreißig Schritte langer Gang, denn ich hatte die Schritte der beiden Diener gezählt. Dann kam eine Biegung nach rechts und wieder ein Gang, diesmal zehn Schritte lang. Und schließlich, am Fuß einer Treppe, deren Verlauf ich nicht kannte, eine scharfe Biegung nach links, die direkt zu unserem alten Raum führte.
Lautlos schlich ich den langen Gang entlang, und obwohl es stockdunkel war, fand ich die Abzweigung nach rechts und folgte ihr, bis ich zu der Galerie gelangte, von der die Treppe nach oben führte und ich scharf nach links abbiegen mußte, um zu Leos Zimmer zu gelangen. Als ich um die Ecke bog, fuhr ich hastig zurück, denn vor der Tür zu Leos Raum, die sie gerade abschloß, stand im Licht der Lampe, die sie in der Hand hielt, die Khania.
Mein erster Gedanke war, sofort in mein Zimmer zurückzufliehen, doch ich überlegte es mir anders, da ich sicher war, dabei gesehen zu werden. Ich beschloß, es darauf ankommen zu lassen. Falls ich entdeckt werden sollte, würde ich sagen, daß ich Leo aufsuchen wollte, um zu sehen, wie es ihm ginge. Also preßte ich mich gegen die Wand und wartete klopfenden Herzens. Ich hörte sie den Gang entlangkommen – und dann stieg sie die Treppe hinauf.
Was sollte ich jetzt tun? Leo aufsuchen zu wollen, war sinnlos, da sie die Tür mit einem Schlüssel abgeschlossen hatte, den sie bei sich trug. Zurück in mein Zimmer? Nein, ich würde ihr folgen und vorgeben, nach Leo zu suchen, falls sie mich entdecken sollte. Auf diese Weise konnte ich vielleicht etwas über Leo erfahren – oder einen Dolch zwischen die Rippen bekommen.
Also um die Biegung und die Treppe hinauf, lautlos wie eine Schlange. Es war eine Wendeltreppe mit unzähligen Stufen, als ob sie zur Spitze eines Kirchturms führe, doch schließlich erreichte ich ihren oberen Absatz, von dem eine Tür abführte. Es war eine sehr alte Tür aus dicken Bohlen, durch deren breite Ritzen Licht auf den kleinen Treppenabsatz fiel, und aus dem hinter ihr liegenden Raum hörte ich Stimmen, die Stimmen des Schamanen Simbri und der Khania.
»Hast du etwas erfahren können, meine Nichte?« hörte ich ihn fragen.
»Ein wenig. Sehr wenig.«
Mein Wissensdurst machte mich mutig. Ich schlich zur Tür und blickte durch eine der breiten Ritzen in den Raum. Mir gegenüber, im hellen Licht einer Lampe, die von der Decke hing, eine Hand auf den Tisch gestützt, an dem Simbri saß, stand die Khania. Sie wirkte heute noch schöner, noch majestätischer als sonst, denn sie trug eine Robe von königlichem Purpur und eine kleine, goldene Krone, und ihr Haar fiel in Wellen auf ihre Schultern und ihren wohlgeformten Busen. Als ich sie so sah, war ich überzeugt, daß sie sich zu einem bestimmten Zweck so festlich gekleidet und alle Künste einer Frau verwandt hatte, um ihre Schönheit zu unterstreichen.
Simbri blickte sie prüfend an, und zum ersten Mal sah ich eine Gefühlsregung in seinem sonst völlig ausdruckslosen Gesicht; ich erkannte Angst und Zweifel in seiner Miene.
»Was ist zwischen euch geschehen?« fragte er dann, ohne den Blick von ihr zu wenden.
»Ich habe ihn sehr nachdrücklich nach dem Grund seiner Reise in dieses Land befragt, und er hat mir schließlich gestanden, daß er hier irgendeine schöne Frau suche – mehr wollte er mir nicht sagen. Ich habe ihn gefragt, ob sie schöner sei als ich, und er antwortete mir aus Höflichkeit – aus keinem anderen Grund, glaube ich –, daß dies schwer zu sagen sei, sie sei eben anders. Dann erklärte ich ihm, obwohl es sich nicht geziemt, so zu sprechen, daß es in ganz Kaloon keine Frau gäbe, die Männer schöner fänden als mich; und daß ich außerdem die Herrscherin dieses Landes sei und daß ich ihn aus dem Wasser gezogen hätte. Ja, und ich
Weitere Kostenlose Bücher