Azurblaue Gewalt (Carla, John und Franklyn)
was tatsächlich hinter deren Schädelknochen über sie oder andere gedacht wurde. Die hörbaren Worte lernte sie hinwegzufiltern, um den tatsächlichen Konsens zu erfahren. Sarah verriet ihre erweiterte, neue Gabe weder ihrer Mutter noch deren Freunden. Sie behielt es als besondere Waffe gegen die Erwachsenen für sich. Oft sagen Erwachsene schöne Dinge zu Kindern, die sie gar nicht positiv meinen. Sie wollte hinter die wirkliche Bedeutung der Aussagen kommen und konnte mittels ihrer Fähigkeit alles aus den Köpfen der Menschen auslesen. Oh, das machte ihr Spaß. Mittlerweile kam sie in ein Alter, in dem es neben Puppen und Spielzeug sehr viele andere Dinge gab, die für das spätere Leben bedeutend sein könnten. Dinge, die Erwachsene nicht gern preisgeben. So zum Beispiel das Thema Liebe und Sex. Was machen die Erwachsenen abends im Bett, wenn sie nicht mehr lesen? Was tun sie unter der Bettdecke, was sie Kindern nicht verraten wollen? Warum haben Männer einen Pipimann, und warum haben Frauen keinen? Und was machen die Männer mit diesem seltsamen Ding? Gibt es noch andere Funktionen, außer sich damit aufs Klo zu setzen oder den Fußboden zu besprenkeln? All diese Fragen konnte Sarah nun klären, ohne laut danach zu fragen. Ihre „Opfer“ merkten noch nicht einmal, dass sie über einen geheimen „Draht“ in deren Gehirn eindringen konnte.
Mit fortschreitender Ausgeprägtheit ihrer besonderen Gabe lernten auch Carla, Franklyn, John und Sally, wie man in die Gedankenwelt anderer Menschen eindringen und diese auslesen konnte, ohne dass diese es feststellten. Endlich konnten sie beurteilen, ob ein Mensch, der zu ihnen sprach, auch tatsächlich die Wahrheit verkündete. Es war ein Spiel, das unheimlichen Spaß bereitete. Schwierig war bloß festzustellen, ob sie selbst abgehört wurden. Es war fast nicht zu fühlen. Vermutlich musste ihre Fähigkeit noch weiter ausreifen, um Fremdangriffe zu ermitteln oder auch abzuwehren. Wenn man weiß, dass jemand gerade die eigenen Gedanken liest, kann man den Lesenden auch ganz gezielt verwirren, indem man Dinge denkt, die der Eindringling gar nicht hören will. Auch dies kann ein herrliches Spielchen sein, wenn man seine oder ihre Reaktionen beobachtet.
Einzig und allein Sarah war seit heute in der Lage zu spüren, ob sich ein Gedankenspion in ihrem Kopf befand. Sie stellte fest, dass es sich so ähnlich anfühlte, als würde man ihr eine Hand auf die Schulter legen. Allerdings befand sich das Zentrum der Berührung nicht auf der Schulter, sondern in ihrem Kopf. Wirklich beschreiben ließ sich das Gefühl nicht. Wie sollte man auch ein Gefühl beschreiben, dass vermutlich kein anderer Mensch in der Lage war zu fühlen? Ganz besonders nützlich war diese neue Fähigkeit für Sarah, wenn ihre Mutter mal wieder versuchte, etwas aus ihr herauszuquetschen. Ganz bewusst war sie nun in der Lage, sie in die Irre zu führen, indem sie ihr gefakte Gedanken zu lesen gab.
Eines Tages sagte Sally ihrer Tochter: „Sarah, ich weiß, dass du weißt, dass ich deine Gedanken lesen kann. “ Doch Sarah war gar nicht in ihrer Nähe. Sie befand sich in der Schule und lernte. Momentan hatte sie Englischunterricht, und ihre Lehrerin las etwas aus einem Buch vor. Sarah erschrak, als sie die Worte ihrer Mutter hörte, denn sie wusste genau, dass sie nicht in ihrer Nähe sein konnte. Ihre Mutter befand sich ganz sicher zu Hause und bereitete das Mittagessen vor. Sarah war gerade dabei, ein paar Schüler ihrer Klasse auszuspionieren. Der Unterricht war mal wieder sehr langweilig, also widmete sie sich ihrer neuen Leidenschaft, nämlich dem Lauschen der Gedanken ihrer Mitschüler. Ihre vom Unterricht abweichenden Aktivitäten konnte sie herrlich verbergen.
So ein Mist, warum kannst du das? Und wo bist du? Warum sehe ich dich nicht? , ging es ihr durch den Kopf. Kannst du mir jetzt schon etwas erzählen, ohne in meiner Nähe zu sein? Ich fühle mich gerade ziemlich überwacht.
Meine Gabe reift in etwa so schnell, wie deine. Du kannst Gedanken lesen, das kann ich mittlerweile auch. Du kannst feststellen, dass ich deine Gedanken lese. Aber auch das beherrsche ich mittlerweile. Du kannst neuerdings anderen ohne Worte Dinge erzählen. Und wie du gerade feststellst, beherrsche ich auch das. Bei Kindern, deren Körper schneller wachsen und deren Kopf noch wesentlich aufnahmefähiger ist, entwickelt sich die Fähigkeit zum Gedankenaustausch vermutlich wesentlich schneller, da sie schneller wachsen und
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