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entwickelte), stehen dem durch physische Untersuchungen des Gehirns gewonnenen Wissen skeptisch gegenüber, allein schon wegen der komplexen Interaktionen der einzelnen Teile (mit entsprechenden Nichtlinearitäten). Ich werde diese Thesen anhand von zwei gut lesbaren Büchern darstellen, die einen Wendepunkt markieren: Descartes’ Irrtum von Antonio Damasio und Das Netz der Gefühle von Joseph LeDoux.
Descartes’ Irrtum stellt eine ganz einfache These auf: Man führt eine chirurgische Ablation an einem Hirnteil eines Menschen durch (etwa Entfernung eines Tumors und des umliegenden Gewebes) mit der ausschließlichen Wirkung, dass diese Person keine Gefühle mehr empfinden kann – sonst nichts (ihr Intelligenzquotient und andere Fähigkeiten verändern sich nicht). In diesem kontrollierten Experiment wird also die Intelligenz von den Emotionen getrennt. Man hat jetzt einen rein rationalen Menschen, völlig unbelastet von Gefühlen und Emotionen. Aufgepasst: Damasio zufolge ist dieser völlig unemotionale Mensch nicht in der Lage, die kleinste Entscheidung zu treffen. Er kann morgens nicht aufstehen und vertrödelt den ganzen Tag mit einem fruchtlosen Abwägen von Entscheidungen. Was für ein Schock! Das widerspricht ja sämtlichen Erwartungen: Ohne Emotionen kann man keine Entscheidungen treffen. Mathematiker geben aber die gleiche Antwort: Würde man eine Optimierungsoperation über eine große Sammlung von Variablen durchführen, würde es selbst bei einem einfacheren Gehirn als dem unseren sehr lange dauern, bis man bei den simpelsten Aufgaben zu einer Entscheidung gelangt. Wir brauchen also eine Abkürzung; Emotionen dienen dazu, uns von solchen Verzögerungstaktiken abzuhalten. Erinnert Sie das an Herbert Simons Thesen? Emotionen erfüllen offenbar diese Aufgabe. Psychologen bezeichnen sie als »Schmiermittel der Vernunft«.
Joseph LeDouxs Theorie zur Rolle der Gefühle im Verhalten ist noch aussagekräftiger: Emotionen beeinflussen unser Denken. Er kommt zu dem Schluss, dass viele Verbindungen vom emotionalen zum kognitiven System stärker sind als ihre umgekehrten Pendants vom kognitiven zum emotionalen System. Das impliziert, dass wir Gefühle empfinden (im limbischen Gehirn) und dann eine Erklärung finden (in der Neokortex). Wie wir bei Claparèdes Beobachtung gesehen haben, könnten viele unserer Meinungen und Einschätzungen zu Risiken einfach das Produkt von Emotionen sein.
Kafka vor Gericht
Der Prozess gegen O.J. Simpson ist ein Beispiel dafür, wie die moderne Gesellschaft von Wahrscheinlichkeiten beherrscht wird (aufgrund der heutigen Informationsfülle), während wichtige Entscheidungen ohne die geringste Beachtung der grundlegenden Wahrscheinlichkeitsregeln getroffen werden. Wir können eine Raumsonde zum Mars schicken, sind aber nicht in der Lage, von den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit bestimmte Strafprozesse abzuhalten – und doch ist die Beweisführung ein eindeutig probabilistisches Konzept. Ich erinnere mich, wie ich ein Buch über Wahrscheinlichkeiten in einem Buchladen der Borders-Kette in unmittelbarer Nähe des Gerichtsgebäudes in Los Angeles kaufte, in dem der »Prozess des Jahrhunderts« stattfand – ein weiteres Werk, in dem das ausgeklügelte quantitative Wissen auf diesem Gebiet dargestellt wurde. Wie konnte ein solcher Quantensprung im Wissen den Rechtsanwälten und Geschworenen nur wenige Kilometer entfernt entgehen?
Menschen, die so nahe an der Kriminalität sind, wie uns die Wahrscheinlichkeitsregeln zu folgern erlauben (also mit einer Konfidenz, die über den leisesten Zweifel hinausgeht), laufen frei herum, weil wir die Grundsätze der Wahrscheinlichkeiten missverstehen. Ebenso kann man für ein Verbrechen verurteilt werden, das man niemals begangen hat, weil Wahrscheinlichkeiten wiederum falsch gedeutet werden – denn wir haben immer noch keine Gerichte, in denen die kombinierte Wahrscheinlichkeit von Vorkommnissen (mithin die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Ereignisse gleichzeitig stattfinden) richtig berechnet werden kann. Ich hielt mich in einem Trading Room auf, in dem ein Fernseher lief, als ich einen der Rechtsanwälte argumentieren hörte, dass es in Los Angeles mindestens vier Menschen gebe, die O.J. Simpsons DNA-Merkmale besitzen könnten (und somit die Gesamtabfolge der Ereignisse ignorierte, wie wir im nächsten Absatz sehen werden). Daraufhin schaltete ich den Fernseher angewidert ab und verursachte damit unter den Tradern einigen Aufruhr. Bis dahin
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