B00DJ0I366 EBOK
Matrosenkleider auf die Vernissage gehen, ohne dass ihr blasses, abgearbeitetes und sorgenvolles Gesicht einen neuen Anstrich bekommt. Wenngleich gefühlte hundert Jahre Nervereien nicht durch irgendeinen Abdeckstift verborgen werden können. Nachdenklich reiht sie die Fläschchen in ihrem Bad auf. Warum nicht ein wenig tricksen? Luna macht das genauso. Und sogar Blanca hat sich einen Kajal und Wimperntusche gekauft. Blanca wird das Rennen um die schönste Frau auf der Vernissage machen, davon ist Sam überzeugt. So einen Hosenanzug trägt in Coburg niemand.
Sie lächelt ihr Gesicht an. Es sieht verändert aus, die kurzen Haare wirken Wunder. Sie sieht auf die Uhr. Zeit, sich fertig zu machen, um Roman zu treffen. Eine ideale Chance, um gleich die neuen Kosmetika auszuprobieren.
Während Sam sparsam ans Werk geht, rasen tausend Fragen durch ihren Kopf. Was will Roman von ihr? Soll sie überhaupt hingehen? Doch warum soll sie zu Hause sitzen, bis ihr die Decke auf den Kopf fällt? Hat sich nicht mit Blanca auch alles eingerenkt? Ohne Worte, einfach so, weil es was Größeres, Wichtigeres zwischen ihnen gibt als Zerwürfnisse über Dinge, von denen sie beide wissen, dass diese Dinge nie geregelt werden können.
Sam schnippelt die Etiketten aus ihren neuen Sachen und schlüpft hinein. Schnappt Handtasche und Schlüssel und verlässt die Wohnung.
Wie schnell es Sommer geworden ist! Die Luft ist warm, weich, riecht nach Lindenblüten. Am blauen Himmel segeln ein paar dunkelgraue Wolken vorbei, wie versprengte Zeugen eines Unwetters, das sich freundlicherweise viele Kilometer weit weg ausgetobt hat.
Im Miles and More ist es vergleichsweise ruhig. Roman sitzt bereits da. Er hat eine Zeitung vor sich.
»Hallo!«
Er sieht hoch. Reißt die Augen auf. Lächelt. Springt von seinem Stuhl hoch.
»Samantha!«
Plötzlich mag sie es, dass er sie mit ihrem vollen Namen anredet.
»Hallo, Roman.« Sie küsst ihn auf die Wange. »Sag nichts. Ich bin der größte Depp aller Zeiten. Ein richtiger Volltrottel.« Die Worte sprudeln ihr über die Lippen, ohne dass sie etwas dagegen tun kann. »Ich hätte dich nicht so kaltblütig abservieren sollen.« Was soll sie hinzufügen? Ich hatte meine Gründe?
Er legt ihr die Hände auf die Schultern. »Du siehst fantastisch aus.«
»Danke.«
»Einen Prosecco?«
»Einen Prosecco. Und dann will ich wissen, was es Wichtiges gibt.« Sie erschrickt im selben Moment. Wird er nicht denken, sie ist wirklich nur gekommen, weil seine Nachricht sie neugierig gemacht hat? Ist sie nicht vor allem seinetwegen gekommen?
Roman macht sich augenscheinlich keine großen Gedanken, sondern ordert eine Flasche Prosecco. Als der Cooler auf dem Tisch steht, sagt er:
»Du musst entschuldigen, wenn ich ein bisschen weiter aushole. Aber ich finde, du musst das wissen. Das bin ich dir schuldig.«
»Du bist mir gar nichts schuldig.« Der Prosecco perlt, sie trinkt einen Schluck und genießt kurz mit geschlossenen Augen. »Eher bin ich dir was schuldig.«
»Das klären wir später, okay?«
Sie lacht. »Okay.«
»Es gibt eine Verschwörung. Eleni Tsiadis ist in Coburg. Sie wird die Vernissage besuchen. Sie wird deiner Mutter begegnen. Gleichzeitig ist ihr italienischer Agent hinter ihr her. Er will sie in einen Skandal laufen lassen. Ins offene Messer, sozusagen. Eleni Tsiadis ist nicht die, die sie vorgibt zu sein, Sam. Sie ist …«
»Sie ist Grace. Ich weiß.«
»Du weißt es?« Alarmiert sieht Roman Sam an.
»Guck nicht wie ein bedröppeltes Huhn. Ich habe es mir zusammengereimt. Die Legenden um ihre Herkunft. Sie spricht perfekt deutsch. Ich habe sie im Peggy-Guggenheim-Museum reden hören. Mit einer Freundin. Im Waschraum.«
Roman schlägt mit der rechten Hand auf den Tisch. »Es passt alles zusammen, Sam. Sie ist in Griechenland verschwunden. Grace May ist untergegangen. Und als Eleni Tsiadis wieder aufgetaucht.«
Kurz berichtet Sam, was Luna und sie sich zurechtgebastelt haben, neulich, bei zwei Flaschen Rotwein.
Roman nickt. Er schenkt ihnen Prosecco nach.
»Das Schlimmste weißt du noch nicht.«
»Das Schlimmste?«
»Ich finde, du musst es wissen. Deine Großmutter findet das auch.«
»Blanca?« Was hat Roman mit Blanca zu schaffen? Fädeln denn alle hinter ihrem Rücken Sachen ein?
»Ist dir aufgefallen, dass du deiner Mutter überhaupt nicht ähnlich siehst?«
»Ich weiß. Ich sehe aus wie … Nikolaj.«
Roman wischt sich den Schweiß von der Stirn. Hastig trinkt er sein zweites Glas
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