Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
Kinder der Welt hatte. Sie war sich mit Christian nur noch nicht einig, ob die beiden den Dickschädel von ihr oder von seiner Seite der Familie geerbt hatten.
»Oma Käthe ist zu Besuch …«, flüsterte Babel und schaute kurz in eine Ecke des Zimmers, doch als Maria ihrem Blick folgte, konnte sie dort nichts weiter erkennen als einen Stapel alter Platten und einen halb eingegangenen Affenbrotbaum. Die Sonne ließ die Staubpartikel in der Luft tanzen.
»Sie ist hier?«
»Seit heute Morgen.«
Maria stellte es die Nackenhärchen auf, als sie versuchte, in dem flackernden Licht etwas auszumachen. Aber ihre Augen konnten nichts erkennen, und auch die Energien zeigten keine Veränderung an.
Es war nicht das erste Mal, dass Babel die Toten sah. Dieses Talent war zwar mit den Jahren schwächer geworden, aber nie ganz verschwunden. Mit Toten, die eine Verbindung zu ihr besaßen, wie zum Beispiel längst abwesende Verwandte, konnte sie immer noch sehr leicht in Kontakt treten, dabei war Käthe eigentlich nicht Babels Großmutter, sondern Marias. Sie war lange vor der Geburt der Mädchen gestorben. Was sie wohl an diesem Tag bei ihnen wollte?
Weder Maria noch Judith konnten sie sehen, und manchmal verspürte Maria so etwas wie leise Eifersucht. Aber die magischen Talente verteilten sich nun einmal nicht danach, wie es den Empfängern am genehmsten wäre. Sie hatte immer geahnt, dass ihre älteste Tochter über Kräfte verfügte, die ihr und Judith fremd bleiben würden. Das hatte einen Graben geschaffen, der zwischen Mutter und Tochter nicht existieren sollte. Auch nicht zwischen Schwestern – und Maria versuchte mit allen Mitteln zu verhindern, dass Babel vor der Zeit davon erfuhr. Manchmal hegte sie jedoch den Verdacht, dass Babel bereits ahnte, was in ihrem Kopf vorging.
Jetzt zum Beispiel, als der Blick dieser grauen Augen fast sezierend auf ihr ruhte.
Sie bemühte sich um ein Lächeln, aber es gelang ihr nicht.
Auf einmal rutschte Judith wieder von ihrem Schoß und lief zur Terrassentür. Ihre winzige Hand legte sich auf das fleckige Glas, neben die Stelle, an der sich ein Schmetterling niedergelassen hatte. Vielleicht war er durch ein offenes Fenster ins Haus gelangt. Es war ein schönes Exemplar, burgunderrote Schwingen mit gelbem Rand, die im Sonnenlicht leuchteten.
Plötzlich schien aller Jammer vergessen, Judith strahlte, als sie sich begeistert umdrehte und rief: »Guck, Mama!«
So war es immer mit ihr. Zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend in weniger als zehn Sekunden.
Könnten wir doch alle so sein , dachte Maria. Stattdessen sagte sie leise zu Babel: »Geh zu ihr. Sie ist deine Schwester.« Dabei beugte sie sich zu ihrer Tochter, um ihr die Hand auf die Wange zu legen.
Die Haut unter ihren kalten Fingerspitzen war warm, und heftige Zuneigung erfasste Maria. Das war Fleisch von ihrem Fleisch, ein Teil von ihr – und bei allen Gräben zwischen ihnen war das ein Band, das man nicht trennen konnte, ganz gleich, welchen Gefahren Babel noch begegnen würde.
Babels Stirn legte sich in Falten, als denke sie ernsthaft darüber nach, welche Auswirkung es auf sie haben könnte, dass sie eine Schwester besaß. Die wirkliche Bedeutung dieses Satzes – für eine Hexe – würde sie erst viel später begreifen, da war sich Maria sicher. Wenn sie alt genug war, um zu erfassen, dass die Einzigen, die sie und ihre Magie wirklich verstanden, andere Hexen waren. Dann würden Blutsbande eine neue Bedeutung erhalten.
Babel kaute nervös auf der Unterlippe herum, aber nach einigen Herzschlägen zeigte sich in ihrem Gesicht ein entschlossener Zug. Sie legte die Gabel neben den Teller, rutschte von ihrem Stuhl herunter und ging zögerlich zu ihrer Schwester hinüber. Bis sie die Tür erreicht hatte, waren ihre Strümpfe burgunderrot und besaßen gelbe Bündchen.
Vorsichtig hielt sie die Hand an die Scheibe, und Maria spürte, wie Babels Magie durch den Raum glitt. Zäh und träge wie geschmolzenes Karamell, das von einem Löffel tropft. Langsam kroch der Schmetterling auf Babels Hand.
Auch Judith hob die Hand und hielt sie daneben. Babel legte ihre darüber. Wie in Zeitlupe kletterte der Schmetterling von Babel zu Judith, und als die dünnen Beinchen über Judiths Haut glitten, stieß die Fünfjährige einen kleinen Begeisterungsschrei aus, der auch Maria lächeln ließ.
Einen Moment lang standen die Schwestern ganz still, wobei sich ihre Köpfe berührten und sich Babels dunkleres Haar mit den hellen
Weitere Kostenlose Bücher