Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
lag nur an diesem nagenden Gefühl, das ihr keine Ruhe ließ: das Bedauern darüber, Sonjas Tod nicht verhindert zu haben.
Hätte sie Mikhail schneller durchschaut, wäre die Geschichte anders verlaufen. Dann würde Sonja noch leben und ihre albernen magischen Salons abhalten, und Babel hätte nicht grün und blau geschlagen im Krankenhaus gelegen.
Angespannt lief sie weiter, während unter ihren Schuhen der Kies knirschte.
Der Anblick im Spiegel war in den letzten zwei Wochen schon besser geworden. Das Veilchen um das rechte Auge verblasste zu einem grün-gelben Schleier, unter der verkrusteten Oberlippe kam eine hellrosa Narbe zum Vorschein, und auch die Schwellung am Unterkiefer ging langsam zurück.
Leider senkten die Menschen, denen Babel auf der Straße begegnete, noch immer hastig den Blick, wenn sie ihr ins Gesicht gesehen hatten, als wäre sie eine gemeingefährliche Irre, die jeden Moment die Beherrschung verlieren könnte, wenn man sie nur falsch anschaute.
Vielleicht war daran aber auch die steile Falte zwischen Babels Augen schuld, die von ihrer geringer werdenden Geduld zeugte. Denn seit dem Vorfall mit Mikhail, seinem Dämon und Sonjas Tod vor ein paar Wochen war ihre Umgebung dermaßen rücksichtsvoll, dass Babel am liebsten laut geschrien hätte.
Selbst Tamy, ihre AA -Sponsorin, hielt sich mit klugen Ratschlägen zurück. Stattdessen warf sie Babel bedeutungsschwere Blicke zu, die sie stärker niederdrückten, als es jeder Ratschlag gekonnt hätte. Seit zwei Monaten war Babel bei keinem einzigen Montagstreffen mehr gewesen, und wie immer schien Tamy genau zu riechen, was in ihr vor sich ging.
Die Scham darüber, erneut die Kontrolle über ihre Kräfte verloren zu haben, hielt Babel davon ab, den Leuten ihrer Selbsthilfegruppe gegenüberzutreten, die ihr über so lange Zeit eine Stütze gewesen war – und alles, was Tamy dazu sagte, war: »Du hast da was total falsch verstanden.«
Mit ihren einsneunzig hatte die Türsteherin, die Haar wie Rapunzel besaß, auf sie heruntergesehen und die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt, als wäre Babel ein uneinsichtiges Kind.
Und für einen Moment hatte sie sich auch genauso gefühlt.
»Wir versagen alle mal irgendwann, Babel. Scham über deine Fehler wird dich nicht weiterbringen.«
Sie wusste, dass Tamy recht hatte, aber ihr Magen war noch nicht so weit, wieder zu den Montagstreffen zu gehen und sich somit einzugestehen, dass sie sie immer noch brauchte. Was ihr einmal das Leben gerettet hatte, kam ihr jetzt nur wie eine zusätzliche Prüfung vor.
Da war ich schon mal weiter, oder? Ich hatte die Sache im Griff, und dann … Puff. Ein einziger Kontakt mit den Dämonenebenen, und sie war ihnen wieder genauso verfallen wie schon einmal vor vielen Jahren.
Und meine Scham darüber ist alles, was ich im Moment habe.
Aber Tamy schien auch das zu verstehen.
Kein Wunder also, dass Babel seit Tagen dieses Zucken im linken Auge verspürte, das ihr verriet, wie dünn ihr Geduldsfaden tatsächlich geworden war. Und der Gang über den Friedhof machte es auch nicht besser, denn inzwischen beunruhigte sie der Gedanke, an diesem Grab zu stehen.
Das Gefühl verstärkte sich noch, als sie sich der ausgewiesenen Stelle näherte, an der das Begräbnis stattfinden sollte, und lediglich ein einziger Mann in einem grünen Overall zu sehen war. Einen Schritt neben ihm gähnte das dunkle Loch, in dem sie alle irgendwann enden würden. Die Vorstellung deprimierte Babel.
Irritiert warf sie einen Blick auf die Uhr. War sie vielleicht zu früh? Doch sie hatte sich nicht geirrt – die Bestattung hätte schon vor zehn Minuten beginnen sollen, aber außer ihr war niemand hier.
Das war eigenartig. Schließlich hatte Sonja es hervorragend verstanden, mit ihren schwachen magischen Kräften der prominenten und wohlhabenden Klientel Geld aus der Tasche zu ziehen, indem sie den Leichtgläubigen die Karten legte oder ihnen Tränke braute. Sie war eine schöne Frau gewesen, mit roten Locken und Kurven an den richtigen Stellen, eine Frau, die sich zu inszenieren wusste – da hatten sich die Leute gern erzählen lassen, dass sie eine Hexe war.
Mit dem, was Babel tat, besaß das Ganze allerdings wenig Ähnlichkeit.
Dass nun von jenen Leuten kein Einziger zu ihrer Beerdigung kam, um der großen Madame Vendome die letzte Ehre zu erweisen – und dabei gesehen zu werden –, konnte Babel nicht glauben.
Zögernd trat sie auf den Mann im Overall zu, der ihr missmutig
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