Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
entgegensah. Seine Mundwinkel waren so weit nach unten gezogen, dass sie beinahe sein fliehendes Kinn berührten, und die buschigen Augenbrauen trafen sich über der Nasenwurzel. Selbst seine Nase schaffte es irgendwie, Missbilligung auszudrücken.
»Entschuldigen Sie«, sprach Babel ihn an, »ist hier die Beerdigung von Sonja Schubert?«
»Wem?«
»Madame Vendome?«
»Oh, die …« Der Mann schüttelte den Kopf und schmatzte ungehalten. »Wenden Sie sich an die Friedhofsverwaltung, da gab’s ein Problem …«
»Ein Problem?«
»Sind Sie Familie?« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Nein.«
Der Mann blickte sich um wie ein Kind, das weiß, dass es gleich eine Dummheit begehen wird und trotzdem nicht anders kann, dann beugte er sich zu ihr hinüber und flüsterte: »Offenbar ist die Leiche verschwunden.«
»Verschwunden?«
Er nickte. »Ja, ja. Heute Morgen wollten wir den Sarg fürs Krematorium holen, da war er weg. Seitdem ist hier die Hölle los, sag ich Ihnen.« Seine Haltung verriet deutlich, was er davon hielt. »Wenn Sie mich fragen, taucht der Sarg bald wieder auf, ich meine, der kann ja nicht einfach verschwinden, und das Schloss an der Tür war auch in Ordnung.« Er winkte ab. »Den hat keiner geklaut. Wahrscheinlich haben die den bloß noch nicht abgeholt. Da hat einer gepennt.« Er steckte die Hände in die Brusttasche des Overalls, während Babel ihn fassungslos anstarrte.
Nachdem die Staatsanwaltschaft gegen Mikhail Anklage erhoben hatte, war Sonjas Leiche endlich zur Beerdigung freigegeben worden. Offiziell galt die Sache als Raubüberfall mit Todesfolge, über die wahren Hintergründe wurde natürlich nichts bekannt. Dafür hatte Babel gesorgt. Schließlich konnte man den Behörden schlecht erklären, dass Mikhail ein Hexer war, der versucht hatte, mithilfe von Sonjas Totenenergie sein magisches Potenzial zu aktivieren.
»Ich hoffe nur, dass die den Schlamassel bis zum Mittag klären«, unterbrach der Mann ihre Gedanken. »Ich muss auch mal wieder an die Arbeit, die macht sich ja nicht von allein.«
Geistesabwesend nickte sie. Trotz des warmen Wetters fröstelte sie auf einmal, denn ein eigenartiges Gefühl beschlich sie – und es war alles andere als angenehm.
Konnte eine Leiche wirklich verlegt werden? War das nur ein Versehen? Zufall?
Hätte es sich bei dieser Leiche um die alte Großmutter von irgendwem gehandelt, hätte sich Babel vielleicht mit dieser Erklärung abgefunden, aber wenn Hexen im Spiel waren, tat man gut daran, nicht an Zufälle zu glauben.
Doch soweit Babel wusste, war von den in der Stadt ansässigen magisch Aktiven niemand in den Bereichen der Nekromantie unterwegs, obwohl in diesen Ritualen so viel Macht steckte. Das hatte auch seine guten Gründe.
Die Versuchung, einen geliebten Menschen mithilfe der Magie zurückzuholen, war für jede Hexe groß, ebenso wie sich der Energien zu bedienen, die die Totenebene bereitstellte. Aber die meisten Hexen taten es am Ende nicht, denn der Preis, den sie dafür zahlten, war einfach zu hoch. Solche Rituale verlangten viel Blut und große Opfer; sie waren kompliziert und erforderten ein hohes Maß an Konzentration, über das nur wenige magisch Aktive verfügten. Die Mehrzahl der Nekromanten brauchten Jahre, um diese Rituale zu meistern – und jedes Mal liefen sie Gefahr, sich in der Magie zu verlieren.
Außerdem kamen die Toten nie so zurück, wie sie als Lebende gewesen waren. Man konnte aus einem toten Ding nichts Lebendiges mehr machen. Diese eine Barriere konnte auch die Magie nicht überwinden.
Die ins Fleisch zurückgezwungenen Toten waren nur noch Schatten ihrer selbst, Marionetten der Hexe, die sie beschwor, denn sie waren an ihre Meister gebunden und mussten jedem Befehl nachkommen. Für Hexen war die Nekromantie das letzte Tabu, und in den meisten Städten wurden magisch Aktive, die sich darauf spezialisiert hatten, nicht geduldet.
Babel war in ihrem Leben nur zweimal einem Nekromanten begegnet, und beide Male war ihr vor Abscheu die Galle hochgekommen.
Zögerlich verabschiedete sie sich von dem Friedhofsmitarbeiter und lief langsam den Weg zurück, den sie gerade erst gekommen war.
In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie in einer Nacht, in der man keine Ruhe finden kann und sich unruhig im Bett hin und her wälzt. Das schöne Wetter kam ihr auf einmal verdächtig vor. Wie ein umgekehrtes Omen, bei dem allzu schöne Dinge manchmal nur die Vorboten von Katastrophen waren.
Seit sie Sam
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