Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
Wörter verstummten, klopfte sie an und trat ein.
Eine Frau in Babels Alter und einem ähnlichen Kostüm sah ihr mit gerunzelter Stirn entgegen. »Ja?«, fragte sie scharf.
»Ich komme von der Versicherung, ich hatte angerufen.«
Die Frau schaute nicht freundlicher drein, schien sich aber ein wenig zu entspannen. »Oh, ich dachte schon, Sie wären von der Presse.«
»Nein, keine Presse.«
Die Frau nickte und brachte endlich ein kleines Lächeln zustande. »Seit heute Morgen klingelt das Telefon fast ununterbrochen.«
»Das kann ich mir denken.«
Wenn in der Stadt eine Leiche verschwand, war das natürlich ein gefundenes Fressen für die Presse. Irgendeiner von Madames Freunden hatte offenbar den Mund nicht halten können.
»Professor Mahler wartet bereits auf Sie.« Die Frau erhob sich von ihrem Platz und winkte Babel, ihr zu folgen. Gemeinsam schritten sie den Gang hinunter, tiefer hinein in den Bauch der Gerichtsmedizin und vorbei an einer Reihe undurchsichtiger Türen, an denen lediglich kleine Schilder anzeigten, was dahinter geschah. Vor einer Milchglastür blieben sie schließlich stehen. Die Sekretärin klopfte energisch und drückte im selben Augenblick die Klinke nach unten.
»Ihr Termin ist da«, sagte sie, während sie den Kopf wie eine Schildkröte nach vorn streckte. Sie hielt Babel die Tür auf, trat aber nicht selbst ins Zimmer. Stattdessen ließ sie Babel mit dem Institutsleiter allein.
Professor Mahler war ein kleiner Mann. Schmal, mit einer nervösen Aura, der nie die Finger stillhalten konnte. Ein stetes Zwinkern verhinderte längeren Augenkontakt, und als er Babel die Hand reichte, konnte sie die Finger kaum schließen, bevor er ihr die Hand auch schon wieder entzog. Geschäftigkeit war sicher die eine Hälfte seines Erfolgs, der ihn an die Spitze seines Instituts gebracht hatte.
»Wollen Sie einen Kaffee?«, fragte er und sprach dabei genauso schnell, wie er sich bewegte.
»Nein, danke.«
In der Unterwelt soll man nichts essen, wenn man nicht für immer dort bleiben will.
Die Gerichtsmedizin kam Babel ein wenig vor wie die moderne Version dieser alten Sage. Eine Unterwelt aus Stahl und Chrom, die nach Chlor und Desinfektionsmittel roch. Widerwillig nahm sie Mahler gegenüber am Schreibtisch Platz.
Der Anfang des Gesprächs gestaltete sich schwierig, denn obwohl Mahler es gewohnt war, über Tote zu reden, spürte sie das Zögern in seinen Antworten. Das überraschte sie allerdings nicht, immerhin ging es hier auch um seinen Kopf. Als angebliche Angestellte der Versicherung, die das Bestattungsunternehmen vertrat, stand sie nicht gerade auf seiner Seite, wenn es darum ging, einen Schuldigen für das Verschwinden der Leiche zu finden.
Immerhin musste Madame Vendome irgendwo zwischen der Gerichtsmedizin und dem Friedhof verschwunden sein.
Zunächst erklärte er ihr die üblichen Abläufe, wie der Arzt am Tatort einen nicht natürlichen Todesfall feststellte und die Staatsanwaltschaft eine Obduktion anwies. Dann kam er auf Madame Vendome zu sprechen.
»Es war alles wie immer. Wir haben die Leiche im Annahmebereich registriert, sehen Sie. Hier.« Er reichte ihr die Papiere.
Babel sah nur unzählige Abkürzungen und Formeln, die ihr unverständlich blieben. Trotzdem nickte sie, als wüsste sie, wovon er sprach. Sonjas Leben schrumpfte auf drei Seiten mit Nummern und Stempeln zusammen, deren Ecken bereits umgeknickt waren und an einer Stelle einen Riss aufwiesen.
Unangenehm berührt legte Babel die Papiere zurück auf die Tischplatte.
»Danach kam sie in eine Kühlzelle. Auch dort war alles wie immer. Die Körper liegen in einem Leichenplastikbehälter. Diese spezielle Leiche lag ganz oben. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Er führte sie am Untersuchungsraum vorbei, in den sie nur einen kurzen Blick warf. Der Anblick der großen Waage bescherte ihr eine Gänsehaut. Vor ihrem geistigen Auge blitzten Männerhände in Gummihandschuhen auf, die ein triefendes Organ hielten – und auf einmal dachte sie wieder an all die Blutrituale, die sie selbst durchgeführt hatte. Allerdings hatte sie dabei nie mit menschlichen Organen gearbeitet.
Weiter ging es über einen Flur, der mit braunen Fliesen ausgelegt war. Die Farbe war sicher nicht unbeabsichtigt gewählt worden. Der Kühlraum selbst war schlicht und weiß. An der hinterer Wand stand ein Rollregal, in dem viergeschossig Bahren angebracht waren. In einigen befanden sich die von Mahler beschriebenen Plastikbehälter, und es gehörte
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