Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
aber ich bin kein Kind mehr. Spätestens, als du mir von euch erzählt hast, hätte ich den Kontakt abbrechen können, ich bin nicht dumm. Wer solche Kräfte hat, macht sich auch Feinde.«
»Trotzdem.« Sie konnte Tamy ansehen, dass sie geschockt war, obwohl sie sich sehr zusammenriss. Es ging nicht nur um eine Unterkunft oder um verloren gegangene Kleidung, die Wohnung steckte voller Erinnerungen, Fotos, Briefe – Andenken, die unwiederbringlich zerstört worden waren. Das steckte man nicht einfach weg.
»Die Sachen kriegst du von mir erstattet, Tamy. Ich geb dir nachher Geld, damit du dir erst mal was zum Anziehen kaufen kannst.«
»Wir sollten nachsehen, was noch zu retten ist«, mischte sich Judith ein und hakte sich bei Tamy unter. »Vielleicht ist nicht alles zerstört.«
»Viel wird es nicht mehr sein«, erwiderte die Türsteherin. »Die Freundin, die mich angerufen hat, wohnt schräg gegenüber von mir. Sie hat einen ziemlich guten Blick auf mein Haus. Die Polizei hat gesagt, dass vermutlich eine Gasflasche explodiert ist.«
»Du kochst doch gar nicht mit Gas.«
»Ich weiß.« Tamy atmete tief durch und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. »Scheiße, Mann …« Für einen Moment sah sie verloren aus.
»Wo willst du jetzt hin?«, fragte Judith besorgt, und Babel dachte zum ersten Mal daran, dass auch Judiths Sachen bei Tamy gewesen waren – und ein Schlafplatz. »Wir können erst mal in ein Hotel gehen, ich habe ja noch meine Karte bei mir.« Sie schüttelte ihre Handtasche.
Es wunderte Babel, dass Judith Tamy auch in ein Hotel folgen wollte, anstatt bei ihr Unterschlupf zu finden, aber vielleicht wollte sie die andere Frau nach einem solchen Schock auch nicht allein lassen. Tamy war nicht ohne Grund bei AA, auch wenn sie schon seit Jahren trocken war.
»Ich werde erst mal zu mir fahren«, antwortete Tamy, »und dann sehen wir weiter. Die Polizei will sicher mit mir reden.«
»Ich komme mit dir.« Judiths Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass sie darüber nicht diskutieren würde. Das schien auch Tamy zu merken, denn sie nickte nur.
Über ihnen begann der Himmel zu grollen, und die Bäume, die den Parkplatz säumten, bogen sich gefährlich weit zur Seite. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Regen sie alle durchweichen würde.
»Bist du sicher, dass du das schaffst?«, fragte Babel, und Judith begriff sofort, was sie meinte.
»Wir sind jetzt gewarnt, ich pass schon auf. So schnell überrumpelt mich niemand. Wenn wir bei Tamy fertig sind, kommen wir wieder zu dir. Clarissa will dich aus der Stadt haben. Sie denkt, wenn wir ausgeschaltet sind, wirst du den Schwanz einkneifen. Aber so einfach machen wir es ihr nicht.«
Babel nickte nachdenklich.
»Was bedeutet das?«, fragte Mo, der die letzten Minuten geschwiegen und mit der Fußspitze über den Boden gescharrt hatte. Er war immer noch bleich wie ein Laken.
Düster sah Babel ihn an. »Krieg.«
In der Ferne war der erste Blitz zu sehen, und Mo zog die Schultern hoch.
»Wir müssen uns überlegen, wie wir euch aus der Stadt kriegen«, sagte Babel. »Ich will, dass ihr euch eine Weile verzieht, solange das hier läuft.«
»Du wirst uns brauchen.« Tamys Gesicht hatte einen Ausdruck angenommen, den Babel an ihr noch nie gesehen hatte.
»Ich brauche euch lebend noch mehr. Ihr könntet zu Judith gehen. Du hast Platz genug für Tamy, Karl und Mo. Oder ihr geht mit Tom, er kennt genug Leute …«
»Du redest Unsinn!«, erwiderte Judith. »Wirst du Samuel auch bitten zu gehen?«
Überrascht schaute Babel auf. Diese Frage erwischte sie unvorbereitet. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Sekunde lang daran gedacht hatte. Es war ihr einfach nicht in den Sinn gekommen. Er würde ohnehin nicht gehen, selbst wenn sie ihn darum bat.
Du willst ihn dabeihaben, wenn alles den Bach runtergeht, was?
»Dachte ich mir.« Judith warf Tamy einen Blick zu. »Wir bleiben, oder?«
Die Türsteherin nickte. »Du kannst uns brauchen, Babel. Du hast selbst gesagt, dass Clarissa versucht, uns zu vertreiben. Wenn wir jetzt verschwinden, hat sie dich genau da, wo sie dich haben will, und gegen ihre Familie hast du allein keine Chance.«
Babel wusste, dass die beiden recht hatten, aber es fiel ihr schwer, diese Hilfe anzunehmen. Sie war es nicht gewohnt, dass andere Opfer für sie brachten, und sie war den Leuten nicht gern etwas schuldig.
Das sind nicht irgendwelche Leute. Das ist deine Familie. Und eines dieser Familienmitglieder liegt jetzt im
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