Babylon: Thriller
gehen wir zu Fuß weiter«, sagte Tomas. »Es ist noch nicht lange her, da konnte man diesen Punkt nicht über eine Straße erreichen. Im Frühling, wenn es wieder regnet, ist es hier wunderschön. Dann wandert man durch ein Meer von Wildblumen.«
Er holte eine schwere goldene Kette mit einem Anhänger in der Form eines Kreuzes hervor, deren horizontaler und vertikaler Balken jeweils in drei Spitzen endeten. »Legen Sie sich das um den Hals. Es ist das salib-siryani , das Assyrische Kreuz, wie auch wir es tragen.« Er öffnete die obersten Knöpfe seines Oberhemdes. »Tun Sie das Gleiche, sodass jeder, der uns begegnet, es sehen kann. Ich erkläre dann, dass wir Pilger sind. Reden Sie auf keinen Fall selbst.«
»Kennen die Leute Sie denn nicht sowieso?«
»Weiter im Süden schon, aber nicht hier.«
Der steile, unebene Pfad hätte wahrscheinlich sogar einer Bergziege Probleme bereitet. Stellenweise war er weggebrochen und wir mussten unsere Hände zu Hilfe nehmen, um weiter aufzusteigen. Nach etwa einer halben Stunde kamen wir um eine nahezu senkrecht aufragende Felsschulter herum. Der Anblick, der sich uns nun bot, raubte mir den Atem.
Dicht unter dem Berggipfel klebte eine alte Zitadelle am Steilhang. Sie erinnerte an eine Kreuzfahrerfestung. Rund dreißig Meter hohe massive Mauern bildeten ihr Fundament. Darauf erhoben sich wuchtige Bauten mit maurisch anmutenden Fassaden, die im Schein der letzten Sonnenstrahlen rosafarben leuchteten. Darüber, hoch oben am Himmel, zogen zwei Geier als schwarze Schattenrisse vor dem blassvioletten Firmament ihre Kreise.
»Dair Rabban Hurmiz«, sagte Tomas und deutete mit einer ausholenden Geste auf das Bauwerk, »das berühmteste Kloster im Irak. Es wurde im Jahr 640 auf den Überresten eines alten heidnischen Kultzentrums von zwei Prinzen erbaut, die den Wundern unseres legendären Heilers und geistlichen Führers Rabban Hurmiz beiwohnen durften. Im Laufe der Zeit wurde es abwechselnd von der Syrischen Kirche des Ostens und uns Katholischen Chaldäern benutzt.«
Ich konnte mich von seinem Anblick nicht losreißen. Es sah aus wie ein Zauberschloss, das direkt aus Tausendundeiner Nacht hierher versetzt worden war.
»Das Kloster wurde regelrecht in den Berg hineingemeißelt. Im Innern wurde ein geräumiger Speisesaal geschaffen. Seine Stützpfeiler bestehen aus unbearbeitetem Fels. Die Kirche verfügt über fünf Altäre, einen Raum, dessen Fußboden von den Deckeln der steinernen Sarkophage darunter gebildet wird, und eine spezielle Grabkammer für den heiligen Gründervater des Klosters. Die Bibliothek enthält Dokumente, deren Ursprung bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückreichen.«
»Wird es noch benutzt?«
»Die Chaldäische Kirche hat es im Jahr 1975 zurückgefordert. Zurzeit lebt dort eine kleine Gruppe, die es verwaltet und instand hält.«
»Haben Sie dort für das Priesteramt studiert?«
»Nein, in Bagdad. Meine Großeltern wohnten in Alqosh. Als Kinder haben Ari und ich oft in diesen Grotten gespielt, heimlich natürlich. Man kann sich keinen besseren Ort fürs Versteckspiel vorstellen. Als ich die Zeichen auf der Schrifttafel Nahums sah, erinnerte ich mich, die gleichen Zeichen auf einer Wand in einer der Höhlen gesehen zu haben.«
Er deutete auf das Gelände unterhalb des Klosters, ein unwegsames Durcheinander von teilweise mächtigen Felsblöcken, dichtem Buschwerk und kleinen, höhlenartigen Erdlöchern. Wahrscheinlich hatten die Mönche in diesen Kammern in der Erde meditiert und gefastet. In einiger Entfernung erschien für einen kurzen Moment eine geisterhafte Gestalt in schwarzem Gewand in einer der gewölbten Türöffnungen, machte dann kehrt und verschwand. Ansonsten konnte ich niemanden sehen.
Ehe wir uns dem Kloster weiter näherten, knieten Tomas und seine Männer nieder und neigten die Köpfe zu einem Gebet. Ich kam mir ein wenig seltsam vor, wollte sie in ihrer Andacht aber nicht stören und war mir nicht ganz sicher, was ich tun sollte. Ich ging über einen Flecken sandigen Untergrunds und lehnte mich an einen Felsbrocken. Nach ein paar Minuten richtete Tomas sich wieder auf und winkte mir.
Ich konnte vor uns eine dunkle Öffnung erkennen. Ging ich etwa meiner Hinrichtung entgegen? Meine Vernunft verwarf diese Möglichkeit. Sie hätten mich längst bei zahlreichen anderen Gelegenheiten in Tomas’ Haus töten können. Ich bückte mich und kroch in die Erdhöhle.
Wir waren etwa zehn Meter weit vorgedrungen, als vor uns plötzlich Licht
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