Babylon: Thriller
es auch bestens erhalten.«
»Konnte Samuel es auf Anhieb identifizieren?«, fragte ich.
»Schon nach einem Tag kannte er die Bedeutung der ersten Zeilen. Natürlich wissen Sie, dass es mehrerer Schritte bedarf, um Keilschriftsymbole in sinnvolle Worte unserer Sprache zu übertragen. Das hat nichts mit einer normalen Übersetzung zu tun.«
»Sicher«, sagte ich. »Man braucht dazu eine Menge Geduld.«
Er musterte mich prüfend. In seinem Blick lauerte der Verdacht, dass ich weit weniger wusste, als ich vorgab, aber er stellte mich nicht zur Rede, sondern fuhr fort: »Innerhalb einer Woche wusste Samuel, was er gefunden hatte. Und er war geradezu euphorisch.«
»Also wissen Sie, wie der Text auf der Schrifttafel lautet?«
»Nur was er uns darüber gesagt hat. Meine Fähigkeiten sind noch ziemlich begrenzt, daher hätte ich sehr viel mehr Zeit gebraucht, um den Text zu entziffern, und Hanna Jaffrey hat von solchen Schriften nur wenig Ahnung.«
Er hatte eine formelle Art, sich mitzuteilen, bei der ihm nur selten ein falsches Wort oder ein grammatischer Fehler entschlüpfte. Seine Ausdrucksweise entsprach in perfekter Weise einem kühlen und sachlichen Auftreten, das offenbar Teil seiner Persönlichkeit war.
Tomas schien sich auf vertrautem Terrain zu bewegen. Wahrscheinlich war er neben seiner praktischen Arbeit auch noch als Lehrer tätig.
»Schriftgelehrte«, fuhr er fort, »widmen ihr Leben dem Erlernen alter Sprachen, weil es viele Jahre in Anspruch nimmt, die Hunderte von Symbolen der frühen Alphabete auswendig zu lernen. Stellen Sie sich nur die Kanaaniter in den Türkisminen auf dem Sinai vor. Sie hatten als Erste die Idee, Symbole mit Lauten anstatt mit Bildern zu assoziieren. Deshalb war das phönizische Alphabet revolutionär. Dank seiner vierundzwanzig Zeichen bestand immerhin theoretisch die Möglichkeit, dass jeder Mensch in der damaligen Zeit Lesen und Schreiben lernen konnte.
Daran, dass die Schrift sich auf einer Steinplatte befand, erkannten wir, dass der Text eine große Bedeutung gehabt haben musste. Königliche Erlasse und spezielle Weissagungen wurden häufig auf Stein festgehalten, weil dieses Material dauerhafter war. Weniger bedeutsame Dokumente wurden auf weichen Lehmtafeln aufgeschrieben. Die Schreiber behandelten diese Lehmtafeln später mit Wasser, um sie erneut benutzen zu können.«
Ich wollte höflich sein, aber jetzt erzählte er mir Dinge, die mir bekannt waren. Ich bremste ihn mit einer Handbewegung. »Das weiß ich alles.«
Er reagierte mit der Andeutung eines Lächelns. »Tut mir leid. Ich vergaß.«
»Was sagte Samuel über den Text?«
»Er konnte nicht an sich halten. ›Einer der bedeutendsten Funde in der Geschichte des Irak‹, erklärte er uns.«
Ich dachte an meinen Bruder und daran, wie viel ihm das bedeutet haben musste. Er hatte sich gewiss genauso gefreut wie George Smith, der die Assyriologie als Hobby betrieb und in den Fünfzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts die Geschichte von Noah und der Sintflut entdeckte. Smith pflegte damals während der Mittagspause im Britischen Museum Keilschrifttafeln zu übersetzen. Seinen größten Moment erlebte er, als er die berühmte Geschichte auf einer Tafel als Teil des Gilgamesch-Epos entdeckte. Als Smith sich darüber klar wurde, was er gefunden hatte, soll er zahlreichen Anekdoten zufolge herumgerannt und sich vor Begeisterung vor seinen Kollegen die Kleider vom Leib gerissen haben. Samuel war um einiges reservierter, aber auch er dürfte über die Maßen begeistert gewesen sein.
»Jemand wollte sie stehlen«, fuhr Tomas fort. »Daher brachte Samuel sie am nächsten Tag ins Museum nach Bagdad und versteckte sie dort.«
»Wie hat er das geschafft, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hat? Ich habe mich überall erkundigt – beim FBI , bei Interpol und beim Art Loss Register – und nirgendwo wurde etwas von der Schrifttafel erwähnt.«
»Im Museum selbst sind viele Tafeln und Rollsiegel noch nicht abgeschrieben worden. Das trifft auch auf andere Museen zu. Das ist eine der großen Tragödien dieser Plünderung. Vieles wurde nicht in Verzeichnisse eingetragen. Selbst wenn einige Objekte wieder auftauchen, können wir, falls die Kennzeichnungen entfernt wurden, nicht beweisen, dass sie unser Eigentum waren.«
Tomas hielt inne, gab unserem Kellner ein Zeichen, dass er noch einen Tee wünsche, und deutete fragend auf meine Tasse. Ich schüttelte den Kopf. »Der Schreiber hat mit seinem Namen unterzeichnet –
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