Babylon: Thriller
eilte zur U-Bahn. In der Station 155. Straße stieg ich aus und rannte fast die zwei Blocks bis zur Kirche der Fürbitten.
Eine Mauer aus taubengrauem Kalkstein schirmte den Friedhof vor der Straße ab. Mitten im Eingang hatte man zu Ehren von John Audobon, dem das Grundstück einst gehört hatte, ein hohes, mit in Stein gehauenen Vögeln und anderem Getier verziertes keltisches Kreuz aufgestellt. Das Gelände erinnerte eher an einen Park. Uralte Ulmen spendeten den Rasenflächen, die trotz der langen Hitzeperiode noch saftig grün waren, reichen Schatten. Neben Grabstätten mit umzäunten Grabsteinen waren zahlreiche Gräber auch nur mit schlichten Holzkreuzen markiert. Viele Gräber waren so alt, dass die Namen der Verstorbenen mit den Steinplatten, in die sie einst eingraviert worden waren, verschmolzen. Kein Besucher war zu sehen.
Der Anblick all der Grabsteine erinnerte mich daran, dass ich keine lebenden Angehörigen mehr besaß. Nach Samuels Tod war Evelyn die einzige Verwandte, die ich noch hatte. Ich hätte sie längst besuchen sollen. Obgleich erst Mitte fünfzig, hatte ihre Arthritis sich derart verschlimmert, dass sie mittlerweile auf ständige Pflege angewiesen war. Sie war ein paar Wochen nach meinem vierten Geburtstag zu uns gekommen. Es war erstaunlich, dass Samuel überhaupt so lange alleine durchgehalten hatte. Ein gelehrtenhafter, älterer Mann mit einer Vorliebe für Ruhe und Ordnung dürfte mit einem ungestümen Kleinkind nicht allzu leicht fertiggeworden sein. Die Geschichte von Evelyns Herkunft blieb mir stets verborgen, da sie niemals über ihre Jugend im Nahen Osten sprach. Kinder sind in ihrer Neugier kaum zu bremsen, wenn es um Geheimnisse geht, aber irgendwie wusste ich, dass Fragen nach ihrer Jugend oder weshalb sie aus ihrer Heimat geflüchtet war, nicht gestellt werden durften.
Während der Grundschule wickelte sie mir jeden Morgen ein sorgsam zubereitetes Pausenbrot in Wachspapier und eine der braunen Papiertüten, die sie nach ihren Einkaufstouren stets aufbewahrte. Sie packte das Paket in meinen Rucksack und begleitete mich die fünf Blocks bis zur Schule. Als ich älter wurde, war mir dieses Ritual zunehmend peinlich. Sie trug stets schwarze Kleidung, umflatterte mich wie eine wachsame Krähe und ließ mich nie aus den Augen. Sogar im Winter, den sie hasste, schlüpfte sie in ihre viel zu großen Galoschen und machte sich mit mir auf den Weg, wobei sie sich ständig über das Glatteis und die Schneehaufen beklagte. Ich konnte ihre Erscheinung im Vergleich mit den Müttern anderer Kinder an meiner Seite nicht ertragen und tat alles, um mich von ihrer schwerfällig einherstapfenden Gegenwart an meiner Seite zu befreien, aber trotz ihrer freundlichen und verständnisvollen Art konnte ich sie nie abschütteln.
Erst als ich im Teenageralter aufs Internat kam, erkannte ich, wie viel sie mir bedeutete. Von allen Menschen fiel es mir bei ihr am schwersten, sie von Samuels Tod zu informieren.
Ein Rundweg gestattete den Zugang zu einer Gruppe repräsentativer Mausoleen; nur die erschienen mir geräumig genug, um etwas darin zu verstecken. Wie kleine Villen standen sie am Rand des Weges. Zwei fielen mir sofort ins Auge, doch die trugen die falschen Namen: Garret Storm und Stephen Storm. Garrets letzte Ruhestätte war ein kunstvoller gotischer Prunkbau mit einem breiten schmiedeeisernen Tor und einem Giebeldach, dessen Rand mit eisernen Spitzen versehen war und auf dessen Mitte ein Kreuz prangte.
Ich suchte Minas Grab und hielt Ausschau nach Vanderlin, ihrem angenommenen Namen, und Janssen, ihrem Mädchennamen. Aber nach fünfzehn Minuten erfolgloser Suche gab ich es auf. Eines der größeren Mausoleen, ein vom Alter dunkelbraun verwitterter und mit Moos bewachsener Klinkerbau, trug überhaupt keinen Namen. Seine Tür war mit einem rostigen Vorhängeschloss gesichert. Falls Mina in einem Mausoleum zur ewigen Ruhe gebettet worden war, dann musste es dieses sein. Ich machte ein paar Schritte darauf zu, um nachzusehen, ob es kürzlich geöffnet worden war.
»Hallo, Sie da!«
Ein Mann kam auf mich zu. Er trug eine schwarze Lederweste, Bluejeans und ein Satinhemd. Eine klotzige Kette baumelte um seinen Hals.
»Sir«, sagte er, »Sie dürfen nicht hier rein.«
»Ich dachte, es wäre für die Öffentlichkeit zugänglich. Das Tor stand weit offen.«
»Können Sie nicht die Hinweisschilder lesen? Darauf steht, dass Sie die Erlaubnis der Friedhofsverwaltung brauchen. Und Sie müssen einen
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